Ein Leben auf dem Drahtseil
Ein Schaukelstuhl steht auf der Veranda mit Blick auf Hühner, Gänse und Schweine und an kalten Tagen bollert der Holzofen in der Küche.
Die ländliche Idylle in Landesbergen, die Sarah Schwarz sich dort auf einem alten Bauernhof geschaffen hat, ist jedoch ein wenig anders als andere – denn schließlich ist die gebürtige Loccumerin Zirkusartistin.
Manege frei: Für ihre Auftritte hat Sarah Schwarz viele Kostüme.
Wenn Elizabeth am Keyboard sitzt und in die Tasten haut, wenn Maximilian – kurz Max – Sarah aus mehr als nur dem Mantel hilft und wenn Luise zu rasantem Flug ansetzt, dann ist Sarah Schwarz in ihrem Element und alle vier stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Pudel Elizabeth verzückt mit der musikalischen Nummer – bei der Sarah Schwarz ihm die Hand-Arbeit übernimmt. Schwein Max weiß, dass es Belohnungen bekommt, wenn es ein Kleidungsstück nach dem anderen von Sarah herunterzupft, und Huhn Luise hofft auf ähnliches, wenn es sich aus einer Kanone „herausschießen“ lässt. Mit dieser kleinen Menagerie – die noch etliche weitere Tiere enthält - ist Sarah Schwarz vor rund einem Jahr nach Landesbergen gezogen. Dort steht nun im Vorgarten eine Niki de Saint Phalles Nanas nachempfundene Figur, reckt sich am Gemüsebeet ein Gestell in die Höhe, an dem Seiltanz geprobt werden kann, und steht über dem Gehege für die Ziegen das Gerüst für ein Zirkuszelt.
Pudel Elizabeth entzückt das Publikum am Keyboard immer wieder.
Die Zeltplane ruht unterdessen auf einem Anhänger in der Scheune. „Ein Sturm hat uns die Plane heruntergerissen“, erzählt Sarah Schwarz. Sie sei zwar wieder repariert worden, werde demnächst aber nach Frankreich verkauft. Der deutsche TÜV nimmt diese Plane nicht ab. Ein neues Zelt, das den Anforderungen hier entspricht, wollen sie und ihr Mann Sergio Nguyen noch kaufen.
Frankreich. Ja, in Frankreich konnten sie ihr Zelt aufschlagen. Bis zu 250 Besucher hatten darin Platz. Die Besucher des „Piglet Circus“. Unter diesem Namen und mit einem kleinen Team das mal fünf, mal zehn Menschen umfasste, sind sie einige Jahre durch Frankreich getourt. „Piglet“ – Ferkel – hat die Artistin den Zirkus nach Max benannt. Denn zu der Idee, ihn zu kaufen, gehörte auch die Idee, einen eigenen Zirkus zu gründen.
Ein gemaltes Schild im Zirkuswagen ist eines von vielen kleinen Erinnerungsstücken, die Sarah Schwarz dort gesammelt hat.
Doch wie kommt jemand überhaupt auf eine solche Idee? Und wie wird eine Pastorentochter zur Seiltänzerin? Denn genau das ist Sarah Schwarz.
Um beide Fragen zu beantworten, muss sie in ihren Jugenderinnerungen kramen. Als sie noch keine zehn Jahre alt war, da seien Onkel und Tante mit ihr zu Roncalli gegangen. Das sei eigentlich der Auslöser gewesen – von da an habe sie nur noch Zirkus gespielt. Als ihr Vater Berthold Schwarz – damals Pastor in Hannover-Wettbergen – dann eine Freizeit für Kinder aus seiner Gemeinde in der Loccumer Heide organisierte, habe er als Motto „Zirkus“ ausgegeben. Dass der Pastor aus Hannover in jeden Sommerferien mit Kindern nach Loccum ging, hatte mit den Wurzeln der Familie im Ort zu tun. In Loccum wuchs Sarah auf und mit ihren Zirkusspielen begann sie genau dort.
Zum Ende jener Kinderfreizeit gab es selbstverständlich eine Zirkusaufführung. Davon hatte die hannoversche Presse Wind bekommen, berichtete darüber unter dem Titel „Premiere des Kinderzirkus Giovanni“ – woraufhin ein erstes „Engagement“ in Hannover folgte. Was eigentlich nur das Motto für eine Woche war, wurde plötzlich in Hannover-Wettbergen zu einem festen Projekt. Und Sarah Schwarz hatte das, was sie sich gewünscht hatte: einen Zirkus, in dessen Manege sie auftreten durfte.
Den Kinderzirkus Giovanni gibt es noch immer. Schwarz‘ Schwester, Nina Weger, leitet ihn mittlerweile, Roncalli hat die Patenschaft für ihn übernommen und auch Sarah selbst erteilt den angehenden Artisten dort Unterricht auf Drahtseil und Fahrrad.
Ein Leben auf dem Drahtseil – das führt Sarah Schwarz bereits seit ihrer Kindheit.
Aber noch einmal zurück zu Giovannis ersten Jahren und dem Vorsatz, den Sarah Schwarz damals fasste: Sie wollte zum Zirkus gehen. Ein Jahr vor ihrem Abitur zog sie aus der elterlichen Wohnung aus, stellte einen Wohnwagen im Garten auf und lebte dort. Nach der Schule ging sie zu Roncalli – und arbeitete zunächst als Serviererin. Als sie ihren Eltern dann eröffnete, dass sie nach Paris gehen wolle, um an der renommierten „École Fratellini“ Seiltanz zu lernen, ließen die sie ziehen. „Vermutlich meinten sie, dass ich nach einem Jahr genug von der dieser verrückten Idee habe und zurückkomme“, meint Sarah Schwarz schmunzelnd, „dann hätte ich immerhin ein Auslandsjahr gehabt und Französisch gelernt.“
Die Hoffnung ihrer Eltern erwies sich als Trugschluss. Stattdessen lernte und probte Sarah Schwarz in Paris derart fleißig und zeigte so viel Talent, dass sie bereits nach einigen Monaten erste Engagements bekam, die sie neben dem Studium annehmen konnte. „Von dieser Zeit an war ich eigentlich finanziell unabhängig“, sagt sie.
Ein Schaukelstuhl steht auf der Veranda des Zirkuswagens.
Was dann folgte, war ein Leben im Zirkuswagen. Mal hier ein Engagement, mal da. Einige Monate in England, drei Jahre in den USA, Auftritte in Frankreich, Marokko, Brasilien. Alle Länder bekommt sie gar nicht mehr zusammen. In erster Linie Arbeit als Seiltänzerin. Aber auch als Model hat sie gearbeitet, ist für Lacoste über den Laufsteg gegangen. Durch die Welt ist sie getourt, hat viel davon gesehen und sagt doch, dass es ganz gleich war, in welchem Land sie gerade lebte: Sie sei doch immer in ihrer kleinen (Zirkus-)Welt geblieben. Die, erzählt sie, sei wie eine Stadt organisiert, mit dem Zirkusdirektor als Bürgermeister. Und wie in einer Stadt könne auch beim Zirkus jeder dazu gehören – ob groß oder klein, dick oder dünn, mehr oder weniger sportlich. Letztlich gebe es für jeden eine Aufgabe im Zirkus und das sei es auch, was ihr an diesem Leben so wichtig sei. Das ganze Drumherum, das Leben in den Wagen, die Chance, so viele fremde Kulturen kennenzulernen, und doch in einer festen Gemeinschaft zu leben. All das zusammen mache ihr Leben aus – und nicht etwa das Drahtseil.
Die Küche, das Wohnzimmer, dahinter noch das Schlafzimmer –
so sieht das Innere des Zirkuswagens aus.
Das Leben in den Wagen ist etwas, was sie bis heute nicht gelassen hat. Wie gesagt, bereits während der Schulzeit zog es sie dorthin und auch heute sagt sie noch von sich, dass sie in ihrem Wagen lebt.
Das verwundert Besucher ihres Hofes in Landesbergen dann zunächst doch. Ja, der Bauernhof habe eine Wohnfläche von 360 Quadratmetern, erzählt sie und führt freimütig durch alle Räume, zu denen auch noch Stallungen, ein riesiger Heuboden und allerhand Werkstätten gehören. Ein Schlafzimmer hat sie sich im Haus eingerichtet. Aber das, sagt Sarah Schwarz, nutzt sie eigentlich nur, wenn draußen bitterer Frost herrscht. Das wäre doch Verschwendung, das ganze große Haus im Herbst schon zu heizen – wenn es so viel einfacher und leichter ist, den Ofen im Zirkuswagen zu befeuern, um es kuschelig warm zu haben.
Reich verziert im Jugendstil ist der Zirkuswagen von Sarah Schwarz.
Was erst einmal befremdlich erscheint, wird leicht nachvollziehbar für die, die einen Blick in das kleine fahrbare Reich der Artistin werfen. Den nüchternen Charme eines Wohnmobils, das auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet ist, strahlt dieser Zirkuswagen jedenfalls nicht aus. In die Fensterscheiben ringsum sind filigrane Blumen im Jugendstil-Dekor geätzt. Die Holzverkleidung an den Wänden ist mit Blumen-Schnitzereien übersät. Im Wohnzimmer steht ein großer Tisch, von dem Sarah Schwarz sagt, dass dort in Spitzen-Zeiten auch schon mal 20 Leute gesessen haben, und in die Zwischenwand ist ein winziger Kamin eingelassen, der ebenfalls den Idealen des Jugendstils nachempfunden ist. Irgendwann sei eine Journalistin für drei Tage in ihren Wagen gekommen, um eine Reportage für ein Magazin à la „Schöner Wohnen“ zu machen, sagt Sarah Schwarz. Schöner wohnen lässt es sich so gewiss. Und jetzt, wo sie persönliche Sachen auch im Haus lagern kann, ist der Wagen noch geräumiger.
Der Zirkus hat sie also keineswegs losgelassen, auch wenn sie nun mehr oder weniger sesshaft geworden ist. Landesbergen ist es geworden, weil ihre Eltern in Loccum leben. So ist sie ihnen nach Jahren des Herumziehens wieder näher. Dieses Herumziehen lässt sie immer noch nicht sein, möchte es künftig nur in kleinerem Kreis machen. In Städten und Gemeinden im Umkreis. Auch wenn sie gerade eben aus Kanada zurückgekommen ist, wo sie ihren Mann besucht hat, der für Monate als Zeltmeister mit dem Cirque de Soleil tourt. Und wenn es bei ihr auch noch nicht lange zurückliegt, dass sie für den Fernsehsender „arte“ rund um die Welt gejettet ist, um in einer Serie Zirkusse der Welt vorzustellen. 20 Länder hat sie dafür bereist – von Frankreich bis Äthiopien. Aber nun soll alles etwas näher werden.
Schwein Max ist ständiger Wegbegleiter bei Auftritten.
Ab 2020, so ist ihr Plan, will sie mit dem Piglet Circus wieder auf Tour gehen. In der Zwischenzeit nimmt sie Engagements als Solo-Künstlerin an. Beim Loccumer Dorffest hat sie das Publikum bereits in Erstaunen versetzt, bei einem Sommerfest in Stolzenau wird sie demnächst auftreten und auch in ihrer neuen Heimat Landesbergen hat sie schon gezeigt, was Zirkus bedeutet.
Zu diesem eigenen Zirkus ist sie vor rund acht Jahren gekommen. Damals war sie bei einem Auftritt in Großbritannien gestürzt, hatte sich zwei Rippen gebrochen und plötzlich das Gefühl, dass sie einiges ändern müsse in ihrem Leben. Ein eigener Zirkus und zusätzlich zum Drahtseil einige Tiernummern war ihre Idee – die sie in die Tat umsetzte.
So kam Max, das Schwein, zu ihr. Ihn fand sie auf einem Hof in Liebenau. Und Huhn Luise stammt aus der Hühnerzucht des ehemaligen Loccumer Klosterbäckers Wilfried Wiegrebe. Etliche andere Tiere bereicherten das Zirkus-Leben nach und nach und wie in der Arche sind es immer mindestens zwei von einer Art.
Kein Tier soll bei ihr einsam sein. Manche von ihnen sind in Nummern eingebunden, andere nicht. Katze Caroline, die sich im Sessel neben Sarah Schwarz räkelt, hat wenig Lust zum Arbeiten. So ist sie lediglich ein Schmusetier. Andere, wie Schwein Max, legen allerdings großen Wert darauf, gefordert zu werden. Je mehr sie mit ihm arbeite und seine Stärken herauskitzle, desto besser gehe es ihm, sagt sie. So war Max schon in vielen Manegen und auf vielen Bühnen der Welt zu Hause. Und selbst in einer Kinderbuchreihe spielt er eine tragende Rolle. „Die sagenhafte Saubande“ heißt die Reihe, die Sarahs Schwester Nina Weger geschrieben hat. Die charakterlichen Stärken und Schwächen des Schweine-Helden sah sie sich bei Max ab – und gemeinsam gingen die Schwestern sogar auf Lese-Reise. Völlig klar, dass Max dabei war und die meiste Aufmerksamkeit kassierte.
Eine Nummer, erzählt Sarah Schwarz, versucht sie ihrem Max jedoch auszutreiben – obwohl gerade die besonders schön gewesen sei. Bei der Nummer in der Küche, in der Köchin Sarah eigentlich das Schwein kochen wollte, das dann allerdings den Plan durch allerhand Schabernack genial zunichtemacht, hatten sie als Schlussszene nämlich einstudiert, dass Max das Tischtuch vom gedeckten Tisch reißt. Die Belohnung, die es für diesen Trick jedes Mal gab, hat er sich so gut gemerkt, dass kein einziges Tischtuch mehr vor ihm sicher ist. Von dem vielen zerbrochenen Geschirr will Sarah Schwarz gar nicht reden. Aber ihre schönste Teekanne! Seitdem kommt kein Tuch mehr auf ihren Tisch.
Zirkuswagen in Miniatur: das ist das Heim der Schweine Max und Henry.
Während die Artistin erzählt, haben es sich Max und sein Mit-Schwein Henry in ihrem eigenen kleinen Wohnwagen gemütlich gemacht, Luise und ihre Gefährtinnen picken mal hier, mal da auf dem Hof herum und die Ziegen grasen friedlich. Dass das Schwein ein Zirkusstar ist, das Huhn sich als Hut auf Sarah Schwarz Kopf tarnen kann und Sarah Schwarz mit Leichtigkeit und Anmut viel mehr auf einem Drahtseil tun kann, als „nur“ tanzen, lässt diese ländliche Idylle nicht ahnen. Mit dem einen oder anderen Auftritt und ab 2020 mit einem ganzen Zirkus werden die Protagonisten dieser Idylle aber gewiss noch von sich reden machen.
Informationen zum Piglet Circus sind auf der Website www.pigletcircus.com zu erhalten. Kontakt zu Sarah Schwarz können Interessierte über die Nummer (01 76) 34 27 20 87 oder unter aufnehmen.
September 2018
Text und Fotos: ade