Romantik am Brunnen
Erstes Liebesleid für Friedrich Georg Jünger
Die Suche nach der Geschichte des Kurbades Bad Rehburg beginnt in der Zeit der Romantik – endet dort aber noch lange nicht. Ein Stimmungsbild über die Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der Schriftsteller Friedrich Georg Jünger der Nachwelt in seinem Buch „Grüne Zweige“ hinterlassen. Der kleine Bruder von Ernst Jünger wählte ebenso wie dieser die Schriftstellerei zum Beruf und lebte wie dieser in Kinder- und Jugendjahren in Rehburg.
Zur Zeit der Romantik blühte das Bad inmitten der Rehburger Berge auf. Damals kamen viele Mitglieder des Hannoverschen Königshauses zur Kur dorthin – Besuche, von denen auch heute noch gerne erzählt wird und mit denen der Kurort sich schmückt. Die Hingabe zur Natur, zu Musik und Poesie wurde stets gepflegt und auch manche Liebesgeschichte hat die Zeit überdauert. So gibt es etwa die Erzählung, dass sich Liebespaare im „Ziegen-Pavillon“ trafen. Dieser Pavillon stand dort, wo nun der „Kurpark an den drei Teichen“ ist. Seinerzeit weidete in jenem Park eine Ziegenherde, aus deren Milch Molke gewonnen wurde. Die Quellen Bad Rehburgs waren versiegt, Molke-Kuren sollten helfen, den Kur-Status zu erhalten. Also hielten die Bad Rehburger sich Ziegen.
An die Ziegen und jene Liebespaare erinnerte sich Friedrich Georg Jünger nicht, als er sein Buch „Grüne Zweige“ schrieb. Wohl aber an seine erste eigene große Liebe, der er am „Brunnen“, wie Bad Rehburg genannt wurde, zum ersten und auch zum letzten Mal sah:
„Hin und wieder erschienen in ihm (dem Brunnen) Zauberkünstler, Besitzer von Puppentheatern und kleine Gesellschaften reisender Artisten und gaben Vorstellungen, die ich besuchte. Manchmal kam auch ein kleiner Zirkus, …“
Einer dieser Zirkusse blieb dem 13-jährigen Jünger im Jahr 1911 besonders in Erinnerung: „Wenn ich nicht irre, sah ich zunächst dressierte Tiere, Affen und Hunde, und auch einen Feuerfresser. Dann aber war meine Rolle als Zuschauer ausgespielt. Ein Mädchen von etwa zwölf Jahren sprang in den Sandring und verneigte sich lächelnd vor den Zuschauern. … Bis zu diesem Abend hatte ich weder Auge noch Ohr für das weibliche Geschlecht. In dem Augenblick aber, in dem ich dieses für mich wunderbare Geschöpf sah, durchdrang mich ein Glücksgefühl, das neu für mich war…“
„Wie im Traum“ sei er danach nach Hause gegangen, schreibt Jünger und erinnert sich all der Gefühle, die diese Begegnung in ihm auslöste – ohne ein einziges Wort mit dem Mädchen gewechselt zu haben. War er noch euphorisch durch die Nacht gegangen, so stürzte er am nächsten Morgen in tiefe Abgründe, als er erfuhr, dass der kleine Zirkus keine weitere Vorstellung geben, sondern weiterziehen werde. In der Hoffnung, seine Angebetete noch einmal zu sehen, eilte er zum Brunnen „ohne mich um Schule und Essen zu kümmern“. Zumindest diese Hoffnung erfüllte sich für ihn – er erblickte sie noch einmal: “Ich sah sie, wie sie unter den Bäumen hervorkam und auf einen Springbrunnen zuging, um die Goldfische, die in dem Wasser schwammen, zu betrachten.“ Genauestens erinnert er sich Jahrzehnte später an das leichte Zittern des Wassers, die Drahtschlingen des geflochtenen Gitters, an „das Licht, das die Laubgewölbe durchbrach und in Streifen, Kringeln und Flecken auf den Wegen sich regte“. Nur das Gesicht des Mädchens, das habe sich ihm in dem Moment entzogen, als sie sich aufrichtete und den Springbrunnen verließ.
Dieser Springbrunnen – wenngleich ohne Goldfische und Drahtgeflecht – spuckt noch heute einen plätschernden Wasserstrahl aus seiner Mitte heraus. Das Spiegelbild von Friedrich Georg Jüngers erstem Liebesleid dürfte dort nicht mehr zu finden sein.
So bittersüß diese Erinnerung für den Teenager auch war, so sehr genoss er seine Aufenthalte am Brunnen. Musik – kostenlos dargeboten – war ihm ein geliebter Anziehungspunkt:
„Eine Kurkapelle spielte an schönen Tagen in einem Pavillon, der ganz versteckt im Baumgrün lag. Ich entsinne mich, dass ich bisweilen dieser Musik lauschte, ohne einen einzigen Zuhörer außer mir zu entdecken, und die einsame Musik brachte mir das tiefe, lauschende Schweigen der Gegend erst recht zum Bewusstsein. Zugleich hatte sie etwas Heiteres und erweckte den Gedanken, dass die Musiker sich zusammengefunden hatten, um einen schönen Tag durch ihr Spiel zu ehren. Wenn ich auf der Bank saß und den Klängen lauschte, erschien mir der Pavillon wie ein grün gestrichener, auf Säulen ruhender Vogelkäfig, und die Musiker in ihren schwarzen Fräcken und weißen Hemdbrüsten kamen mir wie Elstern vor.“
An anderer Stelle beschreibt er die Einwohner Bad Rehburgs. Einer hatte es ihm besonders angetan: Der Arzt Rudolf Michaelis, der einer der Vorreiter in dem Bemühen war, das Bad in einen Luftkurort zu wandeln:
„Ein alter Arzt, den immer zwei riesige Doggen begleiteten, hatte eine Vorliebe für meine Schwester Hanna gefasst und erlaubte uns, seinen großen Obstgarten, in dem auch Edelkastanien und schöne Pfirsiche standen, die er an Mauern zog, nach Belieben zu plündern. Im Sommer und Herbst machten wir diesem Garten Besuche. Der Arzt, der mit seinen Hunden, seinem Schlapphut und seiner ganzen mächtigen Gestalt den Staatsmann nachahmte, den er leidenschaftlich verehrte, hatte dessen Denkmal in seinem Garten aufgestellt.“
Dieser Arzt Dr. Rudolf Michaelis verehrte Otto von Bismarck. Sowohl mit seinem Äußeren als auch mit den Doggen versuchte er Bismarck nachzuahmen und ihm zu Ehren hatte er in seinem Garten einen Obelisken aufgestellt, der an die Schlacht von Sedan erinnerte – einen der größten Triumphe in des Staatsmanns Karriere.
Der Stein steht noch heute und kann von Besuchern, die die Straße „Allee“ entlang flanieren, auf dem Grundstück vom „Haus Viktoria Luise“ betrachtet werden. Das Haus, in dem heute ältere und behinderte Menschen leben, hatte Rudolf Michaelis 1886 gegründet – damals als Heilstätte für Lungenkranke. Nach Bad Rehburg war er 1866 gekommen, führte ab 1871 den Titel des ersten Königlichen Badearztes und begann bald darauf, sich der Tuberkulose-Forschung zu widmen. Er wollte einer Krankheit entgegenwirken, der zu jener Zeit viele Menschen zum Opfer fielen. Auf seine Initiative geht es zurück, dass Bad Rehburg sich vom Bade- zum Lungen-Kurort wandelte.
Friedrich Georg schreibt weiter: „Mir war dieser alte Arzt, wenn ich ihn mit seinen getigerten und gestromten Doggen auf den Wegen gehen sah, ein Sinnbild aller Freigebigkeit, woran die köstlichen Pfirsiche, die ich von seinen Spalieren pflückte, ihren Anteil hatten, aber auch die Hunde, denn einen Mann, der von so großen Fressern umgeben war, konnte ich mir nicht kleinlich und sparsam vorstellen.“
Genau diese Großzügigkeit ist auch aus Bad Rehburg und den umliegenden Orten überliefert worden. So soll Michaelis, der neben der Lungen-Heilstätte auch eine Landarzt-Praxis betrieb, zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit gewesen sein, dorthin zu fahren, wo seine Hilfe benötigt wurde. Oft vergaß er wohl, bei minderbemittelten Kranken, das Honorar einzufordern. Aktenkundig ist zudem sein Honorarverzicht für die Lungenkranken im Bad Rehburger Armenkrankenhaus.
Rudolf Michaelis starb 1912. Sein Grabstein ist auf dem Bad Rehburger Friedhof immer noch erhalten. Friedrich Georg Jünger muss sich nicht nur im Rückblick beim Schreiben seines Buches, das 1951 erschien, gerne an den Arzt erinnert haben. Wie sonst ist das Bild von dem von wucherndem Gesträuch eingeschlossenen Sedan-Stein zu erklären, den er in späteren Jahren gelegentlich aufsuchte, und seiner Beschreibung, dieser Anblick habe „etwas Friedliches“?
Februar 2020
Text, Fotos, Repros: ade