Der Zauberey sehr verdächtig
Zur Aktualität der Loccumer Hexenverfolgungen
Weshalb an Ereignisse rühren, die Jahrhunderte zurückliegen? Und wie damit umgehen? An diesen Fragen haben sich oft die Geister geschieden, wenn es um die Loccumer Hexenverfolgungen ging. Eine Darstellung einiger Aspekte einer Geschichte, die auch nach Jahrhunderten noch zu kontroversen Diskussionen führt.
Seitdem zieht das so in meiner Hüfte. Merkwürdig… Und da fällt mir doch ein: bist du nicht gestern an meinem Haus vorbei gegangen?
Kurz darauf ist die Milch sauer geworden.
Da stimmt doch etwas nicht.
Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen.
Hexe, sage ich. Hexe. Klagt sie an!“
Diese kleine Szene spielt sich seit einigen Jahren ab und an in der Pilgerkapelle auf dem Gelände des Loccumer Klosters ab. Immer dann, wenn Gästeführerin Greta mit einer Gruppe durch den Ort spaziert und von Geschichtlichem, Bemerkenswertem, von lustigen Episoden und auch von den dunklen Kapiteln in der Historie Loccums erzählt.
Aufmerksamkeit ist ihr dann gewiss und einen triftigen Grund für den Einstieg mit dieser Anklage, die jeweils einen der Gäste trifft, hat sie auch: So macht sie deutlich, wie leicht jemand noch vor wenigen Jahrhunderten der Hexerei verdächtigt und angeklagt werden konnte – und nutzt es, um zu den Hexenverfolgungen in Loccum überzuleiten, die sicherlich eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte des Stiftsbezirks des Klosters waren.
Alte Akten sind in der Klosterbibliothek noch vorhanden und so lässt sich manches gut nachvollziehen. Sehr vordergründig sind in diesen Akten die Urteile: von 54 dokumentierten Prozessen in den Jahren 1581 bis 1660 endeten 29 mit einem Schuldspruch. 29 Menschen sind damals als Hexen beziehungsweise Hexer verurteilt worden. Für alle bedeutete dieses Urteil den Tod.
Beispielhaft erzählt Greta bei ihren Führungen vom Schicksal der Gesche Köllars. Die Witwe aus Wiedensahl ist die letzte in der Reihe der 29 Frauen und Männer gewesen, die verurteilt wurde. Am 2. Juni 1660 enthauptete der Henker sie unweit des Klostergeländes auf dem so genannten „Rosenbraken“, um ihren Leib danach zu verbrennen. Dem voran gegangen war eine lange Zeit der Qual.
Rund neun Monate zuvor, am 1. September 1659, hatten der Bürgermeister und der gesamte Rat des Fleckens Wiedensahl eine Anklage im Kloster gegen Gesche Köllars eingereicht. Sie solle die Pferde ihres Nachbarn Cord Wilkening verhext und dafür gesorgt haben, dass in seiner Stube Eidechsen auftauchten. Eine Eidechse habe sie gar auf das Kleid der Tochter Wilkenings gezaubert.
Das Kloster hatte damals nicht nur die kirchliche Herrschaft über seinen kleinen Bezirk, sondern auch die Halsgerichtsbarkeit – war also zuständig bei Strafgerichtsverfahren und konnte sogar Todesurteile verhängen. Kirchliche und weltliche Macht waren hinter Klostermauern vereint. Deshalb wurde die Anklage dort eingereicht, deshalb veranlasste das Kloster, dass die Wiedensähler Witwe in das „Criminal-Gefängniß“ im Kloster gebracht und wenige Tage darauf dem ersten Verhör unterzogen wurde.
Seine Pferde habe ihr Nachbar übermäßig angestrengt, das Kleid der Tochter hingegen in der Stube gehangen, in der zuvor schon Eidechsen gesehen worden seien - Gesche hatte logische Erklärungen für die Vorwürfe. Zudem wird im Protokoll ihre Vermutung niedergeschrieben, dass der Nachbar Hass auf sie habe, weil sie ihm nicht zu Willen sein wollte, als er sie verschiedentlich belästigte.
Daraufhin fordert das Kloster weitere Beweise von der Gemeinde, die wenig später eintreffen: 31 neue Anklagepunkte, unterschrieben von elf Zeugen. Unter anderem soll Gesche Köllars nun beim Abendmahl die Hostie aus dem Mund genommen und sie später dem Teufel zur Entweihung gegeben haben.
Was dann folgt ist eine nahezu alltägliche Geschichte jener Zeit: weitere Verhöre und die Androhung der Folter. Das Leugnen der Witwe, die selbst in jenem Moment noch erstaunlich standhaft bleibt. Besonders eindringlich in dem wörtlich hinterlegten Vernehmungsprotokoll ist ihre Antwort auf die Frage, ob sie ihre Kinder die Zauberei gelehrt habe. Nein, sagt sie. Ihre Kinder habe sie das Beten gelehrt. Doch alle Antworten nützen nichts. Schließlich bittet sie darum, der Wasserprobe unterzogen zu werden. Damit werde ihre Unschuld sicherlich bewiesen – denn unschuldig ist sie, da ist sie sich sicher. Wenngleich auch sie den damals tief verwurzelten Glauben hat, dass es Hexen und Teufelshandwerk tatsächlich gibt.
Doch Gesche Köllars besteht die Wasserprobe nicht. Dreimal wird sie in einen Teich geworfen, an Händen und Füßen gebunden. Dreimal schwimmt sie oben. Unschuldig war damals nur, wer im Wasser versank.
Der Teich, in dem diese Wasserprobe gemacht wurde, hat in den folgenden Jahrhunderten oft zu Diskussionen geführt. Erst in jüngster Zeit gab es nahezu erbitterte Debatten um ihn. War es ein Teich innerhalb der Klostermauern – etwa der kleine Tümpel hinter dem Abthaus, der im Volksmund den Beinamen „Hexenteich“ hat? Oder lag dieser Teich doch außerhalb? Womöglich im Klosterforst? An einen der Teiche in diesem Forst führt neuerdings ein Geocach, der Gesche Köllars zum Thema hat. Die dort aufgestellte Behauptung, dort seien die Wasserproben durchgeführt worden, lässt sich jedoch durch nichts belegen. Diese Frage dürfte ein Rätsel bleiben.
Aber zurück zu Gesche Köllars. Obwohl ihr Mut nachlässt, will sie nach misslungener Wasserprobe doch nicht gestehen, wessen sie sich nicht schuldig weiß. So kommt schließlich die Empfehlung der juristischen Fakultät Rinteln, die vom Kloster als Rechtsberater hinzugezogen wurde, da sie zwar „der Zauberey sehr verdächtig“, aber eben nicht überführt worden sei, die Witwe frei zu lassen und des Stiftsbezirks zu verweisen.
Umgehend gehen aber neue Anklagen aus ihrem Heimatort Wiedensahl ein, so dass die Rintelner es nun befürworten, die „peinliche Befragung“ anzuwenden. Unter dieser Folter im Kloster sagt Gesche Köllars schließlich alles, was ihre Peiniger von ihr hören wollen.
Damit neigt sich ein neun Monate dauernder Prozess, der nach gültigem Recht geführt wurde, seinem Ende entgegen: Weil sie geständig ist, wird die Witwe begnadigt - zur Enthauptung durch das Schwert. Erst danach wird ihr Körper den „reinigenden Flammen“ übergeben.
Die Prozessakten hat in den 1970er Jahren der heutige Abt des Loccumer Klosters, Horst Hirschler, in der Bibliothek entdeckt, hat den Fall der Gesche Köllars öffentlich gemacht und dazu in einem Aufsatz geschrieben „was man sich heute dabei denken kann“. Unter anderem sagt Hirschler dort: „Und wir können überlegen, was für uns zu tun ist, damit wir uns nicht von Angst, Hass, kurzschlüssigem Denken über Zusammenhänge und der Suche nach Sündenböcken prägen lassen, sondern aus der Klarheit eines den Nächsten liebenden Verstandes heraus handeln.“
Öffentlich gemacht durch Hirschler gab es in den folgenden Jahren immer wieder Ansätze der Auseinandersetzung mit dem Thema der Loccumer Hexenverfolgungen, unter anderem in den 1990er Jahren, als eine Gruppe von Frauen - die meistens von ihnen aus Wiedensahl – den „Initiativkreis Hexenforschung“ gründete.
Erneut zu einem aktuellen Thema sind die Hexenverfolgungen geworden, als das Kloster Loccum im Jubiläumsprogramm anlässlich seines 850-jährigen Bestehens in 2013 auch diesem Kapitel der Klostergeschichte einen Tag widmete. Organisiert und durchgeführt von der benachbarten Evangelischen Akademie lockte die Tagung viele Menschen insbesondere aus der Region an. Vorträge von Fachleuten, ein Spaziergang zum „Hexenbrennplatz“ und ein Blick in die alten Prozessakten waren einige Elemente des Tages.
Was zum Ende allerdings blieb, war die Unzufriedenheit vieler Teilnehmer mit dem, wie die Rolle der Kirche in dem Geschehen dargestellt wurde. Vehement verwies Hirschler darauf, dass das Kloster erstens nur in seiner Funktion als weltlicher Herrscher im Stiftsbezirk gehandelt habe und dass die Prozesse zweitens streng nach der damals gültigen Rechtsprechung durchgeführt wurden.
Können weltliche und geistliche Macht, wenn sie doch beide zu jener Zeit dem Kloster zustanden, so strikt voneinander getrennt gesehen werden? Zu dieser Frage bestand großer Diskussionsbedarf, aber innerhalb des Tagungsablaufs wurde dem kein Raum gegeben. Gefördert wurde dieses Bedürfnis nach Diskussion noch durch Hirschlers Aussage, dass er keinen Wallfahrtsort in Loccum wolle und die Rehabilitierung der „Hexen“ nicht gutheiße. Was damals geschehen sei, könne nicht repariert werden. Allerdings regte er auch an, den Weg vom Kloster zum Brennplatz in „Gesche-Köllars-Weg“ zu benennen und eine Dokumentation zu den Prozessen herauszugeben.
Die nicht beendete Diskussion und die offenen Fragen aus der Tagung sollten dazu führen, dass in den folgenden Monaten die Hexenverfolgungen immer wieder zu einem thematisiert wurden.
So äußerte sich etwa Arend de Vries, Prior des Loccumer Klosters und geistlicher Vizepräsident im Landeskirchenamt, in einem Pressegespräch dergestalt, dass die Geistlichkeit damals „schwerst schuldig“ geworden sei. Die weltliche und die geistliche Macht könnten nicht in diesem Sinne als getrennt voneinander betrachtet werden und Kirche gehöre an die Seite derer, die unterdrückt, verfolgt und gefoltert werden. Eine Rehabilitierung hielt de Vries hingegen nicht für möglich, da die Kirche mit einem solchen Schritt nichts ungeschehen machen könne. Die damalige Verknüpfung von kirchlicher und staatlicher Gewalt sei für die Kirche eher verhängnisvoll gewesen – und leider auch für die angeklagten Menschen.
Ralf Meister, Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, gab als Reaktion auf die Diskussionen ein Statement ab: "Unser Grundgesetz bezeichnet die Menschenwürde als universal und unantastbar. Sie ist damit - gerade wegen der Erfahrung mit dem Unrechtsstaat der Nationalsozialisten - ein vorpositives Fundament der Rechtsordnung. Auch wenn die Hexenprozesse aus damaliger Sicht legal waren, haben sie die Menschenwürde ignoriert oder einseitig und ungerecht ausgelegt. Deshalb müssen wir uns dazu bekennen, dass die Verantwortlichen für die Hexenprozesse jener Zeit schuldig geworden sind, weil sie gegen das Unrecht keinen Widerstand geleistet haben. Gleichzeitig dürfen wir uns mit der Lernerfahrung unserer Zeit nicht leichtfertig über die Menschen der damaligen Zeit erheben. Die Präambel des Grundgesetzes stellt dem Verfassungstext das "Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen" voran. Das ist auch eine Mahnung, die Menschenwürde künftig unabhängig von jedem Zeitgeist gegenüber Angriffen aus politischen, religiösen oder anderen Gründen zu verteidigen."
Und auch die Politik vor Ort begann, sich mit den „Loccumer Hexen“ auseinanderzusetzen. Die Rehburg-Loccumer Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen reagierte auf die Diskussionen, indem sie einen Antrag im Stadtrat einreichte. Danach sollte die Stadt erklären, dass den Menschen damals Unrecht geschehen sei.
Einen weiteren Antrag bekam die Stadt von Hartmut Hegeler vorgelegt, einem Pastor im Ruhestand aus Unna, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, in vielen kommunalen und kirchlichen Einrichtungen bundesweit für die Belange der Opfer der Hexenverfolgungen einzutreten. Dem Ansinnen Hegelers, einen Gedenkstein oder eine Gedenktafel seitens der Stadt aufstellen zu lassen, wollte der Rat nicht folgen. Dem Antrag der Grünen gab er aber einstimmig statt. In der Beschlussfassung heißt es unter anderem:
„Der Rat der Stadt Rehburg-Loccum stellt fest, dass den Opfern der Loccumer Hexenprozesse ein großes Unrecht widerfahren und ihnen unvorstellbares Leid zugefügt worden ist. Die Feststellung soll einerseits der sozialethischen Rehabilitation und Wiederherstellung der Würde der Opfer dienen und andererseits für heutige Generationen Mahnung sein, Menschen nicht durch Feindseligkeiten, Vorurteile, Gerüchte und Verdächtigungen gesellschaftlicher Ächtung und Ausgrenzung oder physischer und psychischer Gewalt auszusetzen.“
Was dann kam, war eine Seminarreihe. Waren in der Loccumer Akademie-Tagung zu den Hexenverfolgungen in 2013 viele Fragen nicht beantwortet worden, so sollten diese Seminare die Chance bieten, das Thema zu vertiefen und weitere Aspekte zu erörtern. Ähnlich, wie die Feststellung des Stadtrates Mahnung für heutige Generationen sein sollte, hatte es Edith Griese-Hüsemann seinerzeit bereits als Teilnehmerin der Akademietagung formuliert: „Um heute wach zu sein für das Leben.“ Die Rehburgerin beschäftigt sich schon seit den 1990er Jahren – damals als Mitglied des „Initiativkreises Hexenforschung“ - mit diesem Thema.
Gemeinsam mit ihrem Mann Dieter Hüsemann griff sie den Wunsch etlicher Teilnehmer auf und plante die Seminarreihe. Geschichtliche Hintergründe wurden dort erläutert und die Loccumer Prozesse genau betrachtet. Am Ende stand erneut eine Frage im Raum: Was kann getan werden, um angemessen auf das Unrecht, das den Männern und Frauen seinerzeit widerfuhr, hinzuweisen?
Es ist jener Seminarreihe zu verdanken, dass wenige Monate danach der Konvent des Klosters beschloss, nicht nur den Weg zum „Hexen“-Brennplatz in Gesche-Köllars-Weg zu benennen und eine Dokumentation herauszugeben, sondern auch eine Gedenktafel im Kloster anbringen zu lassen. Rund ein Jahr später, am 5. Dezember 2015, ist die Gedenktafel enthüllt worden.
„Wir können und wollen dieses Kapitel nicht verdrängen.“ Was Ludolf Ulrich, einer der Konventualen des Klosters Loccum, vor der noch verhüllten Gedenktafel an der dem Kloster zugewandten Seite der ehemaligen Frauenkapelle sagte, zog sich durch den ganzen Abend. Nicht verdrängen, sondern darauf aufmerksam machen, dass Frauen und Männer im Kloster Loccum der Hexerei bezichtigt und zum Tode verurteilt wurden. Zur Enthüllung der Tafel und der anschließenden Hora in der Kirche kamen mehr als 100 Menschen. Auf der Tafel sind die Namen derjenigen verzeichnet, die verurteilt und hingerichtet oder während der Haft im Kloster gestorben sind. Weitere Namen könnten später durchaus noch hinzukommen, sagte Ulrich, sofern neue Erkenntnisse hinzukämen.
„In Demut sehen wir, welche Irrwege Theologie und Kirche gehen können“, sagte Arend de Vries in der Hora, die dem Gedenken der Verurteilten gewidmet wurde, und fügte hinzu: „Wir bitten Gott, dass er uns vor Irrtum und Unrecht bewahren möge. Das Unrecht, das wir beklagen, soll uns zugleich Mahnung sein, heute nicht wegzuschauen, wenn Menschen verleumdet, Zuflucht-Suchende verunglimpft, Außenseiter und Fremde bedroht werden.“ Der Frage eines Zuhörers, weshalb statt der Hora kein Buß-Gottesdienst abgehalten worden sei, entgegnete de Vries, dass solch ein Gottesdienst mit Vergebung ende – deshalb die Entscheidung für die Hora.
Ob es nun um Schuld geht oder um das Klagen über das Unrecht, um Buße, Vergebung, um Mahnen oder Lehren für die Zukunft – auch jetzt noch wird nicht alles von allen Beteiligten einheitlich betrachtet. Dass die Gedenktafel nun aber an die Opfer erinnert, ist für alle unstrittig gut.
Februar 2014
Überarbeitung Dezember 2018
Text und Fotos: ade