Der Bräutigam, der vom Himmel fiel
Episoden aus dem Leben von Ernst Jünger
Einen, nur einen einzigen ihrer Einwohner hat die Stadt Rehburg jemals zum Ehrenbürger ernannt: Den Schriftsteller Ernst Jünger. Dessen Rehburger Episode war zwar nur kurz, dafür gelangte er in späteren Jahren aber zu Weltruhm und war ohne Zweifel eine vielschichtige Persönlichkeit. Einige Episoden aus dem Leben Ernst Jüngers in Rehburg möchten wir Ihnen in unseren Stadtgeschichte(n) in loser Folge vorstellen. Wir beginnen mit den Geschichten vom Bräutigam, der vom Himmel fiel und den Erlebnissen, die Ernst Jünger und sein Bruder Friedrich Georg mit dem Steinhuder Meerbach verbinden.
Vermutlich aus dem Jahr 1918 stammt dieses Foto der Geschwister Jünger: Friedrich Georg, Hanna, Wolfgang, Ernst und Hans. Foto: privat
1965, zu Ernst Jüngers 70. Geburtstag, verlieh Rehburg ihm – in Abwesenheit – die Ehrenbürgerwürde. Gelebt hat Ernst Jünger in Rehburg mitsamt seinen Eltern und Geschwistern von 1907 bis 1919. Erinnerungen an diese Zeit hat sowohl Ernst Jünger selbst in seinen Büchern, als auch dessen drei Jahre jüngerer Bruder Friedrich Georg in eigenen Werken festgehalten. Einige dieser Erinnerungen möchten wir in einer losen Reihe im Heimatboten vorstellen, daran anknüpfen, sie mit dem Rehburg heutiger Zeit vergleichen oder auch die losen Fäden aufnehmen, die die Jünger-Brüder in ihren Büchern geknüpft haben.
Im ersten Teil dieser Serie kommen jedoch weder Ernst noch Friedrich Georg zu Wort. Die Geschichte vom „Bräutigam, der vom Himmel fiel“ aus der Zeit des Ersten Weltkriegs hat sich der verstorbene Rehburger Heimatforscher August Lustfeld von Frauen aus der Stadt berichten lassen. Von ihr wusste nicht einmal der Jünger-Biograf Heimo Schwilk – und fügte sie dankend seinen Unterlagen hinzu:
„In der Villa unmittelbar neben dem Schützenplatz an der Straße nach Bad Rehburg war an einem Sommermorgen die Schwester von Ernst Jünger, Hanna, damit beschäftigt, ihren alltäglichen häuslichen Pflichten nachzugehen. Der Tag schien sehr warm zu werden. Die Vortage jedenfalls hatten gutes Erntewetter beschert und die Bauern in die Lage versetzt, ihre Roggen- und Haferernte einzubringen. Der Stoppelacker war bis auf die Stiegenbreite schon flach gepflügt.
„Jünger-Villa“ wird das Haus neben Rehburgs Schützenplatz genannt, in dem von 1907 bis 1919 die Familie des Schriftstellers Ernst Jünger lebte. Foto: ade
Als Hanna die weit geöffneten Fenster gerade schließen wollte, hörte sie einen Motor aus ungewohnter Richtung brummen: weit über ihr dröhnte die Maschine. Durch das Laub der hohen Eichen konnte sie die Konturen eines Doppeldeckers entdecken, der südlich des Hauses eine Schleife flog und dabei stotternde Geräusche von sich gab. Kurz darauf war es still und Hanna ging wieder ihrer Arbeit nach, wobei ihre Gedanken noch eine Weile bei dem Doppeldecker verharrten. Woher war er wohl gekommen und wohin wollte er?
Eben hatte sie begonnen, das Mittagsmahl zu bereiten, als es an der Tür klingelte. Wie war sie erstaunt, als sie die Tür öffnete und ein Herr im Lederanzug mit einer Schutzbrille um den Hals hängend, sie um Auskunft bat. Strapazen schien Hanna Jünger dem Mann am Gesicht abzulesen. Dieser Umstand und ihre gute Erziehung brachten sie dazu, den Mann ins Wohnzimmer zu bitten, wo er sein Anliegen auch ihren Eltern mitteilen sollte.
Ihre Augen betrachteten unentwegt den charmanten Fremden, als dieser nun erzählte, dass er mit seinem Doppeldecker auf einem Acker notgelandet sei, weil ihm das Benzin knapp geworden war. „Auf dem Weg hierher haben Bauern mir erzählt, dass ihr Vater, gnädiges Fräulein“, und dabei schaute er sie kurz an, um sich dann bittend an den Vater zu wenden, „ein Auto fährt und somit auch Benzin im Hause hat.“ Diese Mitteilung verfehlte ihre Wirkung im Hause Jünger nicht. Der Flieger wurde gebeten, am Essen teilzunehmen und dann wolle man weiter sehen.
Es stellte sich heraus, dass die Benzinvorräte des alten Jünger keineswegs ausreichten, um helfen zu können. Deshalb versuchte man es beim Bürgermeister Meßwarb, der aber auch nicht helfen konnte. Zu jener Zeit besaßen in Rehburg lediglich der Bürgermeister Ernst Meßwarb und die Familie Jünger ein Auto. Die fatale Situation führte zu dem Entschluss, am nächsten Morgen mit der Kleinbahn aus Wunstorf Benzin zu holen, da es weit und breit noch keine Tankstelle gab.
So verging der Tag. Es wurde ein lebhafter Austausch von Erlebnissen und selbstverständlich durfte der Gast im Haus Jünger übernachten. Zwischen Fräulein Jünger und dem Flieger entwickelte sich ein harmonisches Verhältnis, welches sich am nächsten Morgen, bevor das Benzin aus Wunstorf herangeschafft war, noch intensivierte.
Inzwischen hatte sich die Notlandung im Ort herumgesprochen und als das Benzin zum Landeplatz gefahren wurde folgte eine angemessene Schar Neugieriger dem Transport.
Der Pilot versorgte seinen Doppeldecker mit der so umständlich erworbenen Energie. Rundherum untersuchten die Neugierigen den technischen Vogel. Unterdessen war auch der Ortsgendarm erschienen, nahm die Sache zu Protokoll und versuchte, die Neugierigen von dem Flugzeug abzudrängen.
„Nicht nötig, Herr Wachtmeister“, rief der Pilot und bat einige Männer, seinen Vogel anzuschieben, da der Stoppelacker keine gute Startbahn sei. Diese Bitte fand großes Echo. Zehn Mann, an den Tragflächen verteilt, gaben auf das Zeichen des Piloten ihre ganze Kraft, um dem Vogel in die Lüfte zu verhelfen. Eine unbeschreibliche Staubwolke, vom Propeller des Doppeldeckers verursacht, hüllte alle Helfer und Schaulustigen ein als das Flugzeug sich dröhnend erhob, eine Ehrenrunde flog und dann in Richtung Süd-West verschwand.
Was Hanna Jünger und den Piloten betraf – die anfängliche Harmonie entwickelte sich zur großen Liebe und späteren Ehe und allen, die ihre eigenartige Geschichte noch nicht kannten, erzählte sie, „von dem Bräutigam, der vom Himmel fiel“.“
Der Bräutigam Hanna Jüngers hieß Max Deventer und die Verlobung muss im März 1918 stattgefunden haben. In einem Brief an seinen Bruder Ernst vom 27. März 1918 schrieb Friedrich Georg Jünger folgendes: … Hat Mama Dir schon mitgeteilt, dass Hanna sich mit Leutnant Deventer verlobt hat? … Wenn Mama Dir noch nichts geschrieben hat, so heißt das, die Verlobung soll geheim bleiben, bis der glückliche Bräutigam wieder zu Hause ist. Bist Du nicht wie aus den Wolken gefallen?
„Wie aus den Wolken gefallen – genau so ist diese Verbindung zustande gekommen.
Text: ade
Jünger im Meerbach
Prägende Jugendjahre haben die Schriftsteller Ernst und Friedrich Georg Jünger in Rehburg verbracht - in den Jahren 1907 bis 1919, in denen ihre Familie in einer Villa in Rehburg lebte. Manches davon haben sie in ihren Büchern später aufgegriffen. Wie etwa die Streifzüge, die sie gemeinsam in die Landschaft der Meerbruchswiesen am Steinhuder Meer unternahmen, die den beiden Stadtkindern ein Gefühl von Freiheit vermittelten und ihre Abenteuerlust anspornten.
Abenteuerlust hat die Brüder Jünger in ihren Jugendjahren in der weiten Landschaft am Steinhuder Meerbach überkommen. Foto: ade
„So streiften wir weit umher, und bald war uns die Landschaft so vertraut, dass auch ihre heimlichsten Orte uns nicht fremd blieben. Sie war so mannigfaltig, dass sie uns immer beschäftigte“, schrieb Georg Friedrich Jünger in seinem Erinnerungsbuch „Grüne Zweige“. An den Meerbach und den Nordbach erinnerte er sich dort, die aus dem Steinhuder Meer herausfließen und an denen die Brüder viele Stunden verbrachten. Verbotenes taten sie, indem sie in den „schwarzen und braunen Bächen, deren Wasser so träge dahin schlich, dass die Seerosen in ihnen trefflich gediehen“ fischten. Die Fischgerechtigkeit lag bei der Rehburger Oberförsterei, die sie an einen Fischer verpachtet hatte. Um den Fischer zu versöhnen, gaben sie ihm Geldgeschenke und durften von diesem Zeitpunkt an mit Angeln an den Bächen sitzen, nachdem sie zuvor mit der Hand oder mit Steinen Fische erlegt hatten.
Einen denkwürdigen Anblick müssen die Brüder an anderen Tagen geboten haben: „Um ganz ungehindert zu sein, entkleideten wir uns, und versteckten unsere Kleider in einem Erlenbusch und schweiften halbe Tage nackt durch die Sumpfwiesen und Rohrwälder, die als breiter grüner Streifen das Wasser umgaben. Um die Stechmücken, blinden Fliegen und Bremsen abzuwehren, rieben wir den Körper ganz mit dem zähen schwarzen Schlamm ein, so dass wir das Aussehen von Mohren bekamen. Dann eilten wir in schnellem Lauf über die dünne Grasnarbe der schwimmenden Wiesen, die unter unserem Gewicht wie ein träger See aufund nieder wallten. Es war kein ungefährliches Spiel. Manchmal brachen wir mit einem Fuß ein und sanken bis an den Schenkel in den schwarzen Schlamm, der weich und tief unter dem Rasen stand. Mancher Schauer lief mir da über den Rücken. Hier badeten wir und sonnten uns und verplauderten lange Stunden. … Niemals begegneten wir hier einem Menschen, denn der Ort war so gemieden, dass nicht einmal die Hütejungen ihn aufsuchten. So blieb dieses Zwischenreich, das halb fest, halb flüssig war, uns allein überlassen und wir durchkreuzten es auf hundert Pfaden, die nur uns bekannt waren.“
Die schwimmenden Wiesen nahe dem Steinhuder Meer sind vor rund hundert Jahren der Schauplatz zahlreicher Streifzüge von Ernst und Friedrich Georg Jünger gewesen.
Naturverbundenheit und Abenteuerlust ließen die beiden Brüder in jener Zeit auch dem Wunstorfer „Wandervogel-Club“ beitreten, mit dem sie ausgedehnte Märsche machten. Eine weitere Leidenschaft Ernst Jüngers hat zudem ihren Ursprung in diesen Jahren: die Insektenkunde. Sein Vater schenkte ihm zu einem Weihnachtsfest eine erste Ausrüstung zum Käfersammeln, die die Brüder dazu veranlasste, nicht nur die Weite der Landschaft wahrzunehmen, sondern den Blick auch auf die kleinen Dinge zu richten. Erstaunlich sei, schreibt Friedrich Georg, wie diese Beschäftigung das Auge übe, das sich auf kleine und winzige Tiere, auf Fraßstellen, Bohrmehl und Bohrlöcher richte. Während dieser Suche hätten sie auch so manchen Rehburger Kuhfladen genau betrachtet auf der Suche nach einem goldbepelzten Kurzflügler, der ihnen wie ein Fabelwesen vorgekommen sei.
Ernst Jünger (mit Hut) in seiner Wandervogel-Zeit um 1911. Foto: privat
An die Landschaft am Steinhuder Meerbach und die Zeit, die sie dort verbrachten, sollten sich beide Brüder in späteren Jahren oft erinnern. Wehmut klingt mit in der ersten Fassung von Ernst Jüngers „Das abenteuerliche Herz“ (1929), wenn er schreibt: „Wenn wir uns der Zeit erinnern, in der wir Kinder waren, des Schweifens durch Wald und Feld, wo das Geheimnis hinter jedem Baum und jeder Hecke verborgen war, der wilden, tobenden Spiele in den dämmrigen Winkeln der kleinen Stadt, der Glut der Freundschaft und der Ehrfurcht vor unseren Idealen, so sehen wir, um wieviel blasser die Welt geworden ist.“
Für Ernst jünger war die Welt blasser geworden – wer jedoch heutzutage den Orten nachspüren möchte, an denen vor rund hundert Jahren die Brüder Jünger ihre ersten Abenteuer erlebten, kann vieles von dem auf dem Rundwanderweg um das Steinhuder Meer noch erahnen, wo mit konsequentem Naturschutz erhalten oder auch wieder aufgebaut worden ist, was für Friedrich Georg und Ernst Jünger prägend war.
Text: ade
März 2020