Blind im ersten Arbeitsmarkt
Was macht die Blindenwerkstätte in der Loccumer Heide?
Wer sein Navy mit „Heide 11“ in Rehburg-Loccum füttert, wird oft in die Irre geleitet. Dabei verbirgt sich hinter dieser Adresse seit mehr als 20 Jahren ein Unternehmen mit rund 50 Mitarbeitern: Die Blindenwerkstätte Holger Sieben. Nahezu versteckt im Wald nahe der Landesstraße zwischen Loccum und Seelenfeld produziert erfolgreich ein Unternehmen, dessen Waren von Loccum in die gesamte Republik versendet werden.

Stefan Cardinal ist Geschäftsführer der Blindenwerkstätte Holger Sieben – bereits seit 16 Jahren.
Die Maschine für den guten alten Feudel steht gerade still. „Ist auch nicht mehr der Renner im Katalog“, sagt Stefan Cardinal. Er muss es wissen, denn er ist Geschäftsführer der Blindenwerkstätte. Viel besser laufe hingegen das Geschirrhandtuch „Classic“. Kariert wahlweise in Rot, Blau, Grün oder Gelb.
Lars Aulbert hat an diesem Tag die weiß-blaue Version auf seinem Webstuhl aufgespannt. Hunderte von Kettfäden liegen in schnurgerader Reihe nebeneinander. Mit rasender Geschwindigkeit zieht das Schiffchen den Schussfaden hin und her. Oder würde es. Wenn nicht gerade ein Kettfaden gerissen wäre. Der Webstuhl hat den Fehler bemerkt und die schnelle Fahrt angehalten. Die Reparatur ist Aulberts Sache.
Mit Fingerspitzengefühl statt Augenlicht den Fehler finden
Er tastet sich um den Webstuhl herum, fährt dann mit den Fingern über die lange Reihe feiner metallener Häkchen, die die Kette führen. „Ah, da!“, ruft er aus. Mit Fingerspitzengefühl hat er den Fehler gefunden. Nun muss er nur den Faden aufnehmen und an seinem alten Platz neu befestigen. Kurz darauf rattert die Maschine wieder in voller Lautstärke.

Reparatur mit Fingerspitzengefühl: Lars Aulbert knüpft den gerissenen Faden an, damit das Schiffchen im Webstuhl wieder rasen kann.
Das Fingerspitzengefühl ist notwendig, denn auf seine Augen kann Aulbert nicht zählen. Hell und Dunkel – mehr nimmt er nicht wahr. Seit Jahrzehnten schon lässt die Sehkraft des 42-Jährigen kontinuierlich nach. Eine Augenkrankheit, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Er hat sich damit abgefunden – und sich frühzeitig für die Arbeit in einer Blindenwerkstätte entschieden.
In der Loccumer Heide steht er seit 1999 am Webstuhl. Seit die Werkstatt von ihrem ehemaligen Standort in Leese dorthin zog. Ebenfalls seit dieser Zeit lebt er auf dem Gelände. In einem der 16 Appartements des Wohnhauses hinter der Fabrikationshalle. So, wie viele andere seiner Kollegen auch. „Natürlich gefällt es mir, hier nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu wohnen“, sagt er mit Nachdruck, „sonst wäre ich längst woanders hingegangen.“ Dass die Werkstatt rund zwei Kilometer außerhalb Loccums liegt, macht ihm nichts aus. Wolle er einkaufen, bestelle er sich eben ein Taxi. Und um zu Spielen „seines“ BVB zu kommen, sei es ohnehin fast egal, wo er wohne. Gelingt immer. Wenn die Dortmunder denn gerade mal spielen dürfen in der Pandemie.
Das nächste Spiel sehnt er heftig herbei – und steckt flugs in einem angelegentlichen Palaver über Fußball mit seinem Chef. „Das muss immer sein, wenn wir uns begegnen“, sagt Cardinal lachend. Etwas mehr als nur der Chef will er schon sein in diesem Betrieb der besonderen Art.
Besonders sei an Blindenwerkstätten, dass alle Mitarbeiter auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigt sind. „Alle sozialversicherungspflichtig!“, betont Cardinal. Keiner werde für seine Arbeit mit einem Taschengeld abgespeist. Und doch hätten sie mit Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen eines gemeinsam: Unternehmen, die Blindenware kauften, könnten diese die an das Integrationsamt abzuführende Ausgleichsabgabe reduzieren. Als Ausgleich, sofern sie in ihren Betrieben nicht die gesetzlich festgelegte Mindestanzahl schwerbehinderter Menschen beschäftigen.
Nur dadurch, sagt Cardinal, könnten Werkstätten wie ihre am Markt bestehen. Freimütig bekennt er, dass die Blindenware mit den Ramschpreisen am Grabbeltisch und bei den Discountern Blindenware niemals mithalten könne.
Stefan Cardinal: „Kein zugekaufter Mist aus Asien!“
Dabei belässt er es aber nicht, sondern schiebt einen Werbeblock ein. Von der Hochwertigkeit der Ware und davon, dass sie ausschließlich in Deutschland produziert werde. „Kein zugekaufter Mist aus Asien“, sagt er. Hoher Flor bei den Handtüchern, Langlebigkeit bei den Geschirrtüchern und die Besen, erklärt er, würden alle in Handarbeit gefertigt.
Besen und Bürsten aus dem dicken Katalog des Unternehmens produzieren Mitarbeiter in Heimarbeit. In der Loccumer Fabrikation wird gewebt, genäht, gestickt, gestrickt, bedruckt und noch einiges mehr. „Und dann haben wir noch unsere Korbflechterei“, fügt Cardinal hinzu.

Eine Zinkwanne zum Einweichen der Weide ist eines der wichtigsten Utensilien im Kellerraum, der die Korbflechter-Werkstatt von Danny Wasserschaff ist.
Die Korbflechterei hat ihren Standort im Keller. In einem kleinen Raum mit weiß gekalkten Wänden sitzt dort Danny Wasserschaff an einem Werktisch, den er vor zwölf Jahren nach Loccum mitgebracht hat. Tiefe Rillen durchziehen das Holz. Die Tischoberfläche scheint Geschichten zu erzählen von den vielen Körben, die auf ihr bereits entstanden sind.
Dahinter sitzt Wasserschaff auf einem Drehstuhl und gibt dem Korb vor sich den vorletzten Schliff. Er allein ist die Korbflechterei der Blindenwerkstätte. Vor zwölf Jahren, sagt er, sei er auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz gewesen. Körbe wurden in Loccum noch nicht geflochten. „Aber ich habe ihnen das schmackhaft gemacht.“ Damals ist der Katalog um dieses Handwerk ergänzt worden.
Neben ihm steht eine alte Zinkwanne, in der er Weidenruten einweicht, um sie fürs Flechten geschmeidig zu machen. Im Hintergrund dudelt leise ein Radio. Dass er in seinem Kellerraum so weit weg von allen anderen Mitarbeitern ist, stört ihn nicht. Er hängt gerne alleine seinen Gedanken nach. Und sein Handwerk des Korbflechtens liebt er innig.
Jeder Korb ist Qualität – und fair gehandelt
Von der Nachhaltigkeit der Körbe erzählt er und davon, dass es das einzige Handwerk ist, das nicht industrialisiert werden konnte. Jeder Korb, wirklich jeder, werde in Handarbeit produziert. Überall. „Muss man doch mal darüber nachdenken, wenn man eine billige Korbware kauft“, sagt er. Dass sie dann nämlich irgendwo auf dem Globus mit wenig Geld für den Handwerker, in vielen Fällen auch durch Kinderarbeit hergestellt wurde. Wer einen seiner Körbe kaufe – und dafür tiefer in die Tasche greife – erinnere sich hoffentlich daran, dass dieses Stück nicht nur Qualität sei, sondern auch fair gehandelt.

Viele der Gebäude auf dem Gelände der Blindenwerkstätte haben eine lange und bewegte Geschichte hinter sich.
Dem Gespräch mit Wasserschaff im Kellerraum lässt Cardinal einen Blick auf das Gelände der Blindenwerkstätte folgen. Viele der Gebäude sind alt, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Bewegt soll die Geschichte des Geländes gewesen sein und in Zusammenhang mit dem Bau eines Tankstofflagers für Flugzeuge in der Heide gestanden haben. Das Häuschen direkt neben der Einfahrt werde noch heute die „Wache“ genannt, berichtet Cardinal. In dem Anbau daran ließen sich nach wie vor Arrestzellen erahnen.
Viele Jahre hatte die Bundeswehr einen Standort auf dem Gelände. Später kamen Flüchtlinge dort unter, in den 1990er Jahren zuletzt Spätaussiedler. Eine Geschichte mit blinden Menschen hat die Loccumer Heide aber ebenso. 1948 mietete der Blindenverband Niedersachsen teile des Geländes. Diese Ära endete erst 1960, als die Bundeswehr Einzug hielt.
Zur Blindenwerkstätte gehört auch ein Webmuseum
Geschichte bergen auch einige Räume im Erdgeschoss des Verwaltungsbaus. Auch wenn es Historie der jüngeren Art ist. Cardinal weist auf das Schild an einer Tür: Webmuseum. Die Eltern von Inhaber Holger Sieben haben diesen Gebäudeteil mit Beschlag belegt. Senior Horst Sieben, Webmeister von Beruf, läutete seinen Ruhestand mit dem Aufbau dieses Museums ein.

Doris und Horst Sieben haben auf dem Gelände der Blindenwerkstätte ihres Sohnes ein Webmuseum eingerichtet.
Seit Beginn der Pandemie sei das kleine Museum leider noch nicht wieder geöffnet worden. Hoffentlich ändere sich das bald. Damit Besucher sich dort einen Faden durch die Jahrhunderte weben lassen könnten. Mal an einem winzigen Webstuhl, auf dem das Schiffchen von Hand geführt wird, um bunte Borten entstehen zu lassen. Dann wieder an riesigen Maschinen aus der Anfangszeit der Industrialisierung, deren ohrenbetäubender Lärm schon manchen Besucher in den Nebenraum fliehen ließ.
Zum Abschluss, erzählt Cardinal, führe das Ehepaar seine Gäste immer in den kleinen, ebenfalls nahezu antik anmutenden Shop. Die Waren, die sie dort anböten, seien allerdings neu und trügen das Logo der Blindenwerkstätten. Denn nur, wo dieses Logo drauf sei, stecke auch Blindenarbeit drin.
Text und Fotos: ade
April 2022

Was in Blindenarbeit hergestellt wurde, wird mit diesem Logo versehen.
Blindenwerkstätte Holger Sieben
Heide 11
31547 Rehburg-Loccum
Tel.: (05766) 943300