Da brat mir doch einer 'nen Storch!
Weshalb, mag sich mancher in Frühjahr und Sommer fragen, führt Rehburg eigentlich ein Reh im Wappen? Springende Rehe werden eher selten im Stadtbild gesichtet. Stattdessen ziehen aber immer mehr Störche alle Aufmerksamkeit auf sich. Blickten die Rehburger vor einigen Jahren noch voller Stolz auf ihr einziges Storchenpaar, das seine Brut zuverlässig auf dem höchsten Schornstein der Polizeiwache groß zog, so klappert es mittlerweile auf vielen Dächern.

Mutter Störchin wendet dem Drama, das sich nur zwei, drei Meter von ihr entfernt abspielt, meist nur den Bürzel zu. Sie hat genug damit zu tun, die Eier warm zu halten, die sie auch in diesem Jahr in das alte Nest der Polizeiwache gelegt hat. Mit dem Drama müssen sich zwei Jungstörche auseinandersetzen, die sich partout nicht davon abbringen lassen, auf dem steinernen Kreuz, das einen der Giebel der Polizeiwache ziert, ihre Kinderstube zu bauen.
Wackliger Standort auf dem Kreuz
Gebannt beobachteten nicht nur die Rehburger, wie sich immer wieder einer der Jungstörche mit Zweigen im roten Schnabel von Osten nahte und flügelschlagend das Kreuz ansteuerte, um das begonnene Werk fortzuführen. Eine wacklige Angelegenheit. Der Bau hing schief, das Storchenpaar hatte Mühe, sich zu zweit darauf zu halten und von den unzähligen Erweiterungsversuchen landete ein erheblicher Anteil auf dem gepflasterten Platz neben dem Eingang der Ordnungshüter.
„Zu gefährlich“ hatte die Stadtverwaltung nach Absprache mit Naturschützern und Baufachleuten befunden. Was, wenn nicht nur einzelne Zweige fallen, sondern das ganze Nest? Was, wenn der Bauversuch mit so großem Erfolg gelingt, dass das Kreuz der schweren Konstruktion samt Bewohnern nicht mehr standhält? Solch ein Storchennest kann schließlich ein beachtliches Gewicht bekommen, zumal es Jahr für Jahr höher gebaut wird. Als das alte Nest auf dem Dach zuletzt 2003 von Menschenhand geschliffen wurde, weil der Schornstein zu wanken drohte, hatte es das stolze Gewicht von einer Tonne erreicht.


Ein erster Versuch schlug fehl, den Nestbauversuch auf dem Kreuz zu verhindern. Bis zum zweiten Rückbau stand ein rot-weißer Bauzaun vor der Fassade, um Spaziergänger auf Abstand zu halten. Der Ausgang dieser Geschichte war lange ungewiss. Mittlerweile ist die Kreuzspitze so verbaut, dass – hoffentlich – kein weiterer Storch einen Versuch wagt.
Nilgänse erobern Storchennest
Dabei hätten die verzweifelten Störche es sehr viel einfacher haben können. Gar nicht weit entfernt in der Mardorfer Straße könnten sie gemütlich ein Nest beziehen. Auf der Nisthilfe von Heinrich und Inge Volger ist die Brut nämlich Anfang Mai bereits beendet worden. Nicht von Störchen, sondern von einem vorwitzigen Nilgans-Pärchen, dem der hohe Horst gerade recht kam. Drei Eier legten die Nilgänse, denen ebenso viele flauschige Küken entschlüpften. Anstrengende Fütterungen wie bei den Störchen mussten sich diese Eltern nicht antun. Direkt nach dem Schlüpfen schubsten sie ihre Kinder vom acht Meter hohen Mast.

Die Landung gelang und die Küken machten sich im Gänsemarsch aus dem Staub gen Meerbruchswiesen. Ihre Mutter, sagt Heinrich Volger grinsend, habe Mühe gehabt, mit den Kleinen Schritt zu halten.


Wollen Rehburgs Störche unterhalten werden?
Aber zurück zu den Störchen – die sich überwiegend lieber in der Stadtmitte aufhalten. Wozu in einer Facebook-Gruppe augenzwinkernd angemerkt wurde, dass Störche sich wohl lieber dort aufhielten, wo immer etwas los sei.
Liegt es daran, dass in Sichtweite der Polizeiwache ein Paar auf dem Schornstein einer Ergotherapie-Praxis, ein weiteres auf einer Nisthilfe Familien gegründet haben? Dass sich am Ende der winzigen Sackgasse „Im Ohr“ ein Storchennest malerisch in die Ansicht des alten Bauernhauses einfügt, dessen Giebel von Efeu überwuchert ist? Kommt es daher, dass nur wenige Schritte weiter in der Mühlentorstraße vier Paare in direkter Nachbarschaft zueinander brüten?


Wannita Vormweg hat gleich zwei dieser Nester auf ihrem Dach. Um ihre Dachrinne von dem herabgefallenen Nistmaterial zu befreien und ihre Heizung trotz Nest funktionstüchtig zu halten, hat sie einen Freund um Hilfe gebeten. Leiter angestellt, kleine Misere beseitigt. Statt sich über die zusätzliche Arbeit zu beschweren, freuen sich die beiden über die Störche auf dem Dach – denn gelten sie nicht als Glücksbringer?
Ausflug zu Storch-Mythen
Das ist womöglich einen Ausflug in die Welt des Überlieferten und Sagenhaften wert. Verehrten nicht schon die Germanen Störche? Und steht nicht in der Bibel geschrieben, dass Störche unrein sind, also keinesfalls verzehrt werden dürfen? Was für ein Glück für die Störche, dass sie nicht im Kochtopf landen sollten! Auf diesem Hinweis im Dritten Buch Mose basiert angeblich auch der Spruch „Da brat mir doch einer ‘nen Storch“ als Sinnbild für etwas schier Unvorstellbares.
Der Mythos, dass Störche die Kinder bringen, wird im Aufklärungsunterricht zwar nicht mehr verbreitet, gegen ihren Ruf als Glücksbringer scheint aber nach wie vor kein Kraut gewachsen. Vielleicht rührt es daher, dass weiß zugeschieterte Dächer kaum einen Hausbesitzer stören und durchdringendes Schnabelgeklapper nicht als störend empfunden wird.
Narzisstischer Storch war unbeliebt
Dem ewigen Ruf des Glücksbringers und der allgemeinen Freude steht nur ein einzelner Rehburger Storch im Weg. Er machte sich in den 90er Jahren höchst unbeliebt und das nur, weil er sich unsterblich in sein Spiegelbild verguckt hatte. Sehr zum Ärger motorisierter Mitmenschen ließ er sich vorzugsweise auf Motorhauben nieder, beäugte sich in den Windschutzscheiben und krönte seine narzisstischen Anwandlungen mit intensivem Schnäbeln auf dem Glas.

(Thomas Brandt)
Doch zurück zu den Rehburger Exemplaren und der Frage, weshalb es plötzlich so viele sind. Eine Erklärung liegt an den quakenden Fröschen in den Feuchtwiesen am Steinhuder Meer, die direkt hinter Rehburg beginnen. Sie bieten den Störchen einen reich gedeckten Tisch – zumindest in Jahren mit ausreichenden Niederschlagsmengen.
Frosch-Mahlzeiten aus den Meerbruchswiesen
In trockenen Sommern mit niedrigerer Amphibien-Population gehen Störche hingegen bevorzugt zum Mäusefang auf die Wiesen rundum. „Auf unsrer Wiese gehet was, watet durch die Sümpfe…“ Was das Kinderlied besingt, bietet die Natur um Rehburg in Hülle und Fülle.
Dennoch. Der wissenschaftliche Leiter der Ökologischen Naturschutzstation Steinhuder Meer (ÖSSM), Thomas Brandt, hat gewisse Bedenken. Auch ein reich gedeckter Tisch genüge nur einer begrenzten Menge Esser, merkt er an. In der Gegend ums Steinhuder Meer, sagt er, könne der Storch jedenfalls getrost von der Vorwarnliste der gefährdeten Arten gestrichen werden.
Storch-Historie an der Polizeiwache
Das sah in den 1980er Jahren noch ganz anders aus. Wer es – für Rehburg – genauer wissen will, steuert erneut die Polizeiwache an. Auf etlichen Schildern an deren hölzernem Vorbau lässt sich nachvollziehen, wann das über einen langen Zeitraum einzige Nest des Ortes belegt war. Der erste Hinweis stammt von 1958, die weiteren Plaketten geben einen losen Überblick über die folgenden Jahrzehnte. Auf dem jüngsten Schild, von 1988, wird darauf hingewiesen, dass das Nest bereits seit drei Jahren verwaist ist, verbunden mit der fordernden Frage, wann das Naturschutzgebiet Meerbruchswiesen endlich greifen werde. Dieses Naturschutzgebiet ist mittlerweile längst Wirklichkeit – und hat anscheinend auch den Störchen geholfen.

Die Storchen-Population in Deutschland hat sich seitdem aber generell erholt. Wurden zum Ende der 1980er Jahre bundesweit nur 2949 Brutpaare gezählt, so sollen es heute mehr als 7.000 sein.
Ein vollkommen unwissenschaftliches Rechenexempel mag womöglich verdeutlichen, wie storchenreich gerade Rehburg ist: Über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik gerechnet kommt auf 12.000 Einwohner ein Storchenpaar. In Rehburg hingegen dürfen sich lediglich 450 Einwohner ein Paar teilen. Da brat mir doch einer ‘nen Storch!
Juni 2022
Text und Fotos: Beate Ney-Janßen