Ansicht des Rathauses Rehburg-Loccum

Geschichte und Geschichten

aus Rehburg-Loccum

Einfach einmal Danke sagen

Einfach einmal Danke sagen!

„Ich möchte einfach einmal Danke sagen.“ So begann das Gespräch mit Suad Bagari. Danke wollte sie allen sagen, die ihr in den 20 Jahren, die sie in Rehburg-Loccum gelebt hat, geholfen haben. Das Gespräch, das sich daraus ergab, führte zu dem Porträt einer Frau, die vor 20 Jahren aus einem Dorf in Syrien nach Rehburg-Loccum kam und für die unsere Stadt Heimat wurde. Auch wenn sie nun nach Neustadt gezogen ist. Und einer Frau, der auch wir Danke sagen möchten für alles, was sie für Menschen in unserer Stadt getan hat.

 

„Alles selbst geplant“, sagt Suad Bagari und zeigt Küche, Wohn- und Esszimmer des Hauses in Neustadts Baugebiet, das sie mit ihrer Familie vor wenigen Wochen bezogen hat. Von einem derart zufriedenen Leben wagte die Jesidin kaum zu träumen, als sie vor 20 Jahren aus Syrien nach Deutschland floh.

Wenn sie an ihre Kindheit zurückdenkt, hat sie diesen Baum vor Augen, der vor ihrem Elternhaus stand. Ein Baum mit süßen roten Beeren, dessen Namen sie nicht weiß. In heißen syrischen Nächten schleppte die Familie ihre Betten unter diesen Baum, weil es im Haus nicht auszuhalten war. „Wir Kinder lagen in den Betten und haben den Erwachsenen zugehört“, erinnert sie sich. Eltern, Großeltern und Freunden, die sich nach der Arbeit trafen, um Tee zu trinken und den Tag mit Geschichten ausklingen zu lassen. Bei dieser Erinnerung werden ihre Augen feucht. Bereut hat sie ihren Entschluss aber niemals, das alles hinter sich zu lassen.

 Jesiden* haben wenig Chancen in Syrien 

19 Jahre war sie alt, hatte eben geheiratet, war schwanger – und überlegte mit ihrem Mann Suleiman, wie die Zukunft ihrer Kinder aussehen werde. Die Aussichten waren reichlich klar: In Syrien hätten die Kinder kaum Rechte und keine Chance auf eine angemessene Schulbildung. „Weil wir Jesiden sind“, sagt Suad. Eine Minderheit in der syrischen Bevölkerung, wenig angesehen, in vielerlei Beziehung rechtlos.

„Mein Mann war staatenlos“, erzählt sie. Sie selbst hatte zwar einen syrischen Pass. Als Frau in dem muslimischen Land galt sie aber ebenfalls nicht viel. Nur vier Jahre hatte sie die Schule besuchen dürfen, dann musste sie arbeiten. Eine Ausbildung? Das war für sie und ihren Mann als Jesiden undenkbar. Sollten ihre Kinder so aufwachsen? So sehr sie beide die Gemeinschaft in dem Dorf, die Abende unter dem Baum liebten, wünschten sie sich doch eine andere Zukunft. Und machten sich 2001 auf den Weg.

 Auf altem Kahn vom Libanon nach Italien

Eine reguläre Ausreise irgendwohin war unmöglich. Wegen des fehlenden Passes. Also bezahlten sie einen Schlepper, kamen irgendwie in den Libanon, bestiegen dort ein Boot. Neun Tage auf einem alten Kahn, gemeinsam mit 500 weiteren Flüchtenden. Italien war das Ziel. „Waren wir naiv? Oder mutig?“, fragt sie sich. Oder haben sie sich auf diese furchtbare Fahrt nur eingelassen, weil sie es nicht besser wussten? Vermutlich letzteres, sinniert Suad Bagari.

So schlimm die Fahrt auch war – sie kamen an und gelangten nach Deutschland, wo sie einen Asylantrag stellten. Dem jungen Mann und seiner schwangeren Frau wurde eine Wohnung in einer Obdachlosenunterkunft in Rehburg zugewiesen.

 Feuchte Wohnung in einer Obdachlosenunterkunft

 „Das war schlimm“, sagt sie. In der Wohnung gab es nur einen einzigen Holzofen. Die zugewiesene Menge an Kohlen reichte nicht, um die Räume zu heizen. „Mein Mann ist losgezogen und hat Holz von Sperrmüllhaufen eingesammelt, damit wir es ein bisschen warm hatten.“ Das hielt an bis sich eines Tages eine Nachbarin ansah, in welchen Verhältnissen die kleine Familie – ihre älteste Tochter war in der Zwischenzeit geboren – leben musste. „Ich habe ihr gezeigt, dass die Matratze, auf der unsere Evin lag, angeschimmelt war“, erzählt Suad Bagari. Die resolute Nachbarin setzte sich für sie ein und erreichte, dass sie eine andere Wohnung bekamen. Ab diesem Punkt ging es bergauf. „Weil uns viele geholfen haben. Und weil wir es wollten“, sagt Suad.

Sie lernten Deutsch und nahmen jede Arbeit an, die sich ihnen bot. Vier Jahre arbeiteten sie beide im Schichtdienst in einer Wäscherei, gaben sich zu Hause die Klinke in die Hand, damit jeweils einer für die Kinder da sein konnte.

Mit einem Lächeln wischt die 42-Jährige alle Anstrengung dieser Jahre beiseite und erzählt lieber, wie sie mit ihrer größer werdenden Familie – mittlerweile haben sie vier Kinder - eines Tages eine neue Mietwohnung suchten. „Die Mieten waren so hoch, dass ich meinen Mann fragte, weshalb wir uns eigentlich kein Haus kaufen“, erzählt sie. Kurz darauf waren sie in Rehburg stolze Hausbesitzer. Bestens integriert, die Kinder in der Schule, die Eltern bei der Arbeit. Mit vielen Freunden aus der jesidischen Gemeinschaft wie auch Freunden aus ihrem deutschstämmigen Umfeld. 

Auch geflüchtete Muslime unterstützt

Dann kam die Flüchtlingswelle. 2016 strandeten die ersten geflüchteten Familien auch in ihrem Heimatort und Suad Bagari erinnerte sich an ihre Anfänge in Deutschland, an ihre eigene Hilflosigkeit. Und begann zu helfen. Mit Sprachkenntnissen in Deutsch, Kurdisch und Arabisch wurde sie zur viel gefragten Frau. Ob Jeside oder Muslim – ganz gleich. Sie unterstützte alle Menschen. Noch heute hat sie viele Kontakte zu diesen Familien, hört sich deren Sorgen an und sucht nach Lösungen.

Die nicht immer leicht zu finden sind. Oft muss es reichen, dass sie sich die Sorgen anhört. Die häufig schier unerträglich sind. Wie die von der Frau, die sich vergeblich bemüht, ihre Kinder aus der Gewalt der IS freizukaufen. „Dann möchte ich mehr können und wissen“, sagt Suad Bagari. 

Bagaris Ziel: Deutsch schreiben lernen 

Mehr können und wissen ist das Ziel, das sie jetzt vor Augen hat. Über die vielen Jahre hat sie zwar die deutsche Schrift gelernt, kann lesen, kann sich auch durch die Auswüchse der Bürokratie arbeiten. Das Schreiben in Deutsch ist dabei aber immer auf der Strecke geblieben. „Dabei würde es mir die Scheu nehmen, mich mehr einzumischen“, sagt sie. 

An ihrem neuen Wohnort in Neustadt hat sie ihre Fühler bereits ausgestreckt, hat bei der Volkshochschule nach Kursen gefragt. Alles, was angeboten wird, läuft derzeit online. Das helfe ihr beim Schreiben kaum, sagt sie, weshalb sie weitersuche oder darauf hoffe, jemanden im neuen Umfeld zu finden, der sie unterrichten mag.

Das zweite, was sie sucht, ist Arbeit. In Rehburg hat sie zuletzt in einer Pizzeria gearbeitet. Das ist nun zu weit weg, um schnell und flexibel einspringen zu können. „Ich mache alles“, sagt sie. Vor Arbeit hätten sich weder sie noch ihr Mann sich jemals gescheut.

Leichte Sorge schwingt bei diesen Bemühungen mit, denn das Rehburger Unternehmen, für das ihr Mann arbeitet, hat vor wenigen Wochen Konkurs angemeldet. Bald wird sich entscheiden, ob die Werkstore geschlossen werden oder doch noch ein neuer Investor einspringt. Die schlechte Nachricht fiel in die Zeit, als die Familie gerade umzog.

Die Sorgen seiner Frau wiegelt Suleiman Bagari ab: Er ist sich sicher, dass er andere Arbeit bekommt, falls das Unternehmen schließt. Irgendwie ist es doch immer weiter gegangen und eigentlich immer nur zum Guten.

Von den vier Kindern steckt eines mitten im Studium, ein weiteres sieht dem Ende seiner Ausbildung entgegen. Die beiden Jüngsten haben eben die Schule gewechselt. Dennis besucht nun die KGS Neustadt, Miran die dritte Klasse der Hans-Böckler-Schule. Das war es doch, weswegen sie Syrien verlassen haben: Eine bessere Zukunft für ihre Kinder und ein Zuhause, in dem sie sich willkommen fühlen.

Ja, stimmt Suad Bagari ihrem Mann zu. Auch wenn sie manches Mal mit Sehnsucht an die Nächte unter dem Baum in Syrien zurückdenke, möchte sie sie nicht gegen das eintauschen, was sie in Deutschland bekommen hat.

Januar 2022

Text und Fotos: ade

*Jesiden – eine verfolgte Minderheit
Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Minderheit mit etwa einer Million Angehörigen. Ihre Hauptsiedlungsgebiete waren ursprünglich im nördlichen Irak, in Nordsyrien und der südöstlichen Türkei. Durch Auswanderung und Flucht leben sie heute in vielen Ländern. Die größte Diaspora der Jesiden mit geschätzten 200.000 Mitgliedern befindet sich in Deutschland.
Im August 2014 begann ein andauernder Genozid an Jesiden im Irak durch die fundamentalistische Miliz Islamischer Staat. Viele Jesiden fliehen seitdem, um Verfolgung, Versklavung und Ermordung zu entgehen.
Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion. Mitglied der Gemeinschaft kann nur sein, wessen beide Elternteile Jesiden sind.