Liesbeths Grotte
Tief in Loccums Klosterforst treffen Wanderer auf Liesbeths Grotte. Eine halbkreisförmige Mauer und einen Kegel, beide aus Feldsteinen gebaut und ordentlich vermörtelt. Wieso ‚Grotte‘? Und wer ist Liesbeth?

Niemand erinnert sich, wann diese Grotte errichtet wurde. Niemand kennt die Antwort auf diese Fragen. Aber sollte nicht jeder Ort eine Geschichte haben? Wir sind auf die Suche gegangen und bei der Schriftstellerin Marie von Olfers fündig geworden, die 1862 „Das Märchen vom alten Drachen und der treuen Liesbeth“ veröffentlichte. Ist es nicht wie geschaffen für eine sagenhafte Rast an dieser Grotte?

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Liesbeth. Sein Vater und seine Mutter waren gestorben und nun hatte es niemand mehr. In dem Ort, wo seine Eltern gewohnt hatten, wollte kein Mensch etwas von ihm wissen, geschweige denn es bei sich aufnehmen. Da packte es seine paar Kleiderchen in ein Bündelchen zusammen und wanderte von dannen, um gute Leute aufzusuchen, bei denen es bleiben könnte. Als es eine Weile gegangen war, kam es in einen großen, großen Wald. Es fürchtete schon, dass es in dem wilden Wald verhungern müsste, da sah es eine Höhle, die bewohnt war, denn es war eine Tür und ein Fensterchen daran und alle Ritzen waren ordentlich mit Moos verstopft.

In der Höhle wohnte aber ein Drache, der war schon ganz altersschwach und blind und hatte keinen Zahn mehr im Rachen. Er verstand zwar das Zaubern, aber weil er blind war, konnte er die Kräuter und Knochen, die man zum Zaubern braucht, nicht mehr zusammensuchen. Deshalb ging es ihm in seiner Einsamkeit sehr schlecht – kaum, dass er sich an kalten Tagen so viel Feuer zusammenspeien konnte, dass er nicht erfror.
Liesbeth klopfte mehrmals an die Tür und als niemand „Herein“ rief, versuchte sie zu öffnen und - siehe da – die Tür war unverschlossen, sie trat hinein und als sie sich ordentlich umsah, entdeckte sie den alten Drachen in einer Ecke liegend. Er sah schon ganz verhungert aus und wenn es auch ein hässlicher Drache war, so tat er der guten Liesbeth doch leid und sie frug ihn, ob sie ihm vielleicht ein Süppchen kochen sollte? „Ach ja“, sagte der Drache, „du gutes Kind, ich habe schon seit acht Tagen nichts gegessen.“

Im Kamin war noch etwas Feuer, Liesbeth holte ein Kesselchen voller Wasser, setzte es ans Feuer und ließ es kochen. Dann sagte ihr der Drache, wo sie Wurzeln und Früchte finden könnte, die gut zu essen wären, und es dauerte nicht lange, so kochte ein köstliches Gericht in ihrem Kesselchen. Liesbeth schöpfte dem Drachen einen Teller voll auf, band ihm eine Serviette um und gab ihm zu essen. Ach, wie schmeckte das dem alten Drachen und auch Liesbeth war hungrig und aß und so ließen beide es sich wohl sein.

Der alte Drache gewann ein großes Zutrauen zu Liesbeth und versprach, ihr die Kunst des Zauberns zu lehren, falls sie einwilligte, ihn bis an sein Ende zu pflegen und zu hüten. Klein-Liesbeth ging gerne auf den Vorschlag ein und blieb in der Höhle. Bald konnte sie schon die wunderbarsten Dinge zaubern und der alte Drache lebte ganz auf bei der guten Pflege. So verflossen einige Jahre, Liesbeth wurde immer größer und schöner, der alte Drache immer grauer und grämlicher, beide lebten aber in bester Freundschaft zusammen.

Eines Tages verirrte sich ein junger schöner Königssohn auf der Jagd und drang ahnungslos in die Drachenhöhle. Als er dort die schöne Liesbeth am Zauberkessel stehen sah, gewann er sie so lieb, dass er ihr sagte, sie solle auf sein Schloss mitkommen und seine Prinzessin werden. Aber Liesbeth schüttelte traurig den Kopf und, auf den schlafenden Drachen zeigend, erzählte sie, dass sie versprochen habe, ihn nimmer zu verlassen. Der Prinz erwiderte, er wolle nach Hause eilen und gleich mit seinen treuen Knappen wiederkommen, um mit ihnen den Drachen tot zu machen.
Als der Prinz fort war, weinte Liesbeth eine Zeit lang, weil ihr der Prinz gar zu gut gefallen hatte, dann aber weckte sie den Drachen, erzählte ihm alles und sie zauberten sich mitsamt der ganzen Höhle fort in ein fernes, fernes Land.
Der junge Prinz kam mit seinen Knappen, aber keiner konnte die Höhle finden. Da wurde er sehr traurig, denn er konnte Liesbeth nicht vergessen. So traurig wurde er, dass seine Eltern ihm zuletzt erlaubten, zu versuchen, Liesbeth wiederzufinden.
Als fahrender Sänger verkleidet, damit sie ihn nicht erkennen und wieder entfliehen sollte, zog er nun von Land zu Land. Jeden Menschen, dem er begegnete, fragte er, ob er keinem alten Drachen mit einem jungen Mädchen begegnet wäre. Doch nie hörte er etwas von ihnen.

Endlich kam er in ein Land, wo die Fee Wagalaweia herrschte. Diese Fee war des Prinzen Patin. Deshalb nahm sie Anteil an seinem Schicksal und ließ ihn vor sich kommen. Die Fee saß in ihrem Kristallsaal auf einem kristallenen Thron. Sie hatte ein silbernes Gewand an und eine Krone von Wasserrosen auf dem Haupte, denn sie gehörte zu den Wasserfeen. Eine prächtige Musik ertönte in dem Saale, denn die Fee Wagalaweia war eine Cousine der Loreley und sehr musikalisch. Deshalb hatten auch alle ihre dienstbaren Geister die Gestalt von Fröschen, weil diese die einzigen musikalischen Tiere im Wasser sind.
Nachdem der Prinz ihr sein Anliegen vorgetragen hatte, sprach sie: „Ich kenne deinen alten Drachen wohl, er ist ein sehr mächtiger Zauberer und so lange Liesbeth bei ihm ist und ihm seine Kräuter sucht, würdest du ihm auch mit allen deinen Knappen nicht viel anhaben können. Freiwillig wird sie ihn auch nicht verlassen, so lange er lebt, denn was die gute treue Liesbeth einmal versprochen hat, das hält sie. Auch wenn es ihr noch so schwer wird. Also muss man die Sache anders anfangen.“
Darauf lehrte die Fee ihn zwei Lieder, ein sehr trauriges und ein sehr lustiges. Die sollte er dem Drachen vorsingen und den Erfolg abwarten. Als er die Lieder gut konnte, rief sie einen der großen Frösche, die ihr Dienstpersonal bildeten, und lud den Prinzen ein, denselben zu besteigen. Das tat der Prinz. Und nach dem dritten Sprung des Frosches sah er mit Freuden, dass er sich vor der Drachenhöhle befand!

Er trat hinein. Liesbeth, die ganz hinten in der Höhle saß und in einem Zauberbuche las, erkannte ihn nicht in seiner Verkleidung. Der alte blinde Drache, der gehörte hatte, dass jemand hereinkam, fragte: „Wer bist du und was willst du?“ „Ich bin ein armer fahrender Spielmann“, antwortete der Prinz, „und ich möchte mich gerne etwas an eurem Feuer wärmen.“ „Das kannst du“, erwiderte der Drache, „und du sollst auch etwas zu essen haben, aber du musst uns dafür auch ein schönes Lied singen.“ „Das will ich gleich tun“, sagte der Königssohn, stimmte seine Laute und sang das ganze traurige Lied, welches die Fee ihn gelehrt hatte. Da heulte der Drache ganz fürchterlich vor Rührung. Große Tränen liefen ihm über die Nase und auch Liesbeth musste weinen, teils über das Lied, teils weil die Stimme des Sängers sie so sehr an ihren lieben Prinzen erinnerte, den sie verlassen hatte, weil sie dem Drachen Wort halten musste.

„Nein, das war doch zu traurig“, sagte der Drache, nachdem er sich erholt und sich die Nase geschnoben hatte – „nun noch etwas Lustiges.“
Da sang der Prinz das lustige Lied und der Drache fing an zu lachen. Je länger der Prinz sang, je toller lachte der Drache und…

… plötzlich gab es einen großen Krach und da war der alte Drache vor Lachen geplatzt. Er hatte sich tot gelacht!
Da warf der Prinz seine Verkleidung ab, trat zu Liesbeth und sagte: „Nun bist du mein und ziehst mit mir in mein Schloss und wirst meine Prinzessin!“
Ach, wie gerne tat Liesbeth das. Sie wanderten zusammen bis sie in das Land des Prinzen kamen und heirateten sich.
Nun war Liesbeth Prinzessin und hatte das Zaubern nicht nötig. Nur hin und wieder zauberte sie ein bisschen zum Vergnügen!
Als des Prinzen Vater gestorben war, wurde der Prinz König und Liesbeth Königin. Vielleicht regieren sie noch heute.

Hier endet das Märchen vom alten Drachen und der treuen Liesbeth und wir tauchen aus der Märchenwelt auf, um uns an ihrer Grotte wiederzufinden. Ob Steinkreis und Steinkegel die letzten Überreste der Drachenhöhle sein mögen?
Sollte sich nun doch noch ein Mensch finden, der etwas über die wahre Geschichte von Liesbeths Grotte weiß, melde er sich bitte bei uns – auf dass wir die Mär neu schreiben.

Marie von Olfers
Die Autorin des Märchens, Marie von Olfers (1826-1924), war nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Illustratorin und Salonnière. Im Berlin des vorvorigen Jahrhunderts behauptete sie sich in der männerdominierten Welt und gab unter dem Pseudonym Maria Werner Gedichte, Kinderbücher und Novellen heraus. Den von ihrer Mutter gegründeten literarischen Salon ‚Kaffeeter‘ führte sie fort. Zu ihren Gästen und Verehrern zählten unter anderem Rainer Maria Rilke und Hugo von Hoffmannsthal.
Das Märchen vom Drachen und der treuen Liesbeth haben wir auf der Homepage der TU Braunschweig unter dem Link https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/receive/dbbs_mods_00000279 entdeckt.
Und hier geht es zu Liesbeths Grotte: https://maps.app.goo.gl/Czu4rQ8nYq8WbcpX7
September 2022
Text und Transkription: ade