30 Jahre Kooperation von frischli mit der Lebenshilfe

Stadtgeschichte(n)

aus Rehburg-Loccum

Vom Wert der blauen Latzhosen

Vom Wert der blauen Latzhosen

Lebenshilfe kooperiert seit 30 Jahren mit frischli-Milchwerken 

„Den ersten Vertrag haben wir noch per Handschlag gemacht“, erinnert sich Heiner Gehrke. Ein Handschlag für die Kooperation zwischen den frischli Milchwerken und der Lebenshilfe Nienburg über Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen. 30 Jahre sind vergangen, seit der damalige frischli-Betriebsleiter begann, die ersten Lebenshilfe-Mitarbeitenden in die Produktion zu integrieren. Zum Jubiläum blicken beide Unternehmen auf eine kleine Erfolgsgeschichte zurück.

30 Jahre Kooperation von frischli mit der Lebenshilfe

Der Vertrag ist längst verschriftlicht und die Anzahl der Lebenshilfe-Mitarbeitenden ständig gewachsen. „So, wie die Anzahl der Arbeitsplätze im Werk“, sagt frischli-Geschäftsführer Timo Winkelmann. Rund 700 Angestellte sind es im Rehburger Werk, 30 davon gehen auf das Konto der Lebenshilfe.

 




Lebenshilfe-Eltern zunächst skeptisch

An die Anfänge der Kooperation erinnert sich Gehrke noch genau. Einer seiner Mitarbeitenden wollte seinem eigenen Kind, das eine Lebenshilfe-Werkstatt besuchte, mehr Chancen einräumen. Bei Gehrke und Geschäftsführer Hans Holtorf stieß er auf offene Ohren. Bevor es losgehen konnte, hatten weitere Eltern allerdings noch viele Fragen - nach der Arbeitssicherheit, danach, ob das Umfeld den besonderen Bedürfnissen ihrer Kinder gerecht werde, und auch die nach der Bezahlung. Würden sie womöglich als billige Arbeitskräfte ausgenutzt?

Viele Gespräche später waren die Zweifel zerstreut und die ersten Lebenshilfe-Mitarbeitenden bekamen blaue Latzhosen von frischli ausgehändigt. Hosen, wie sie auf dem Werksgelände alle tragen, die in der Produktion beschäftigt sind.

frischli-Belegschaft musste überzeugt werden

Gewisse Vorbehalte habe es anfangs auch in der frischli-Belegschaft gegeben, erinnert sich der ehemalige Logistik-Chef der Milchwerke, Heinrich Krumwiede. „Nach und nach haben aber alle gemerkt, dass diese Gruppe eine Entlastung für uns ist“, sagt er. Das habe schließlich zu Akzeptanz geführt.

Arbeit bei frischli Milchwerke GmbH

 

Winkelmann spricht von einer Erfolgspartnerschaft. Der Geschäftsführer der Lebenshilfe, Frank Ruthenkolk, bestätigt, dass die Zusammenarbeit mit frischli „etwas sehr Besonderes“ ist. Gelebte integrative Arbeitswelt ist das für ihn.

 





Nur ein Prozent kommt auf den ersten Arbeitsmarkt

Wie besonders diese Zusammenarbeit – abgesehen von der langen Partnerschaft – ist, lässt sich auch an Zahlen gut ablesen: 660 Menschen mit Beeinträchtigungen sind bei der Lebenshilfe unter Vertrag und arbeiten an deren sieben Standorten. Für 75 von ihnen hat das Unternehmen Dienstleistungsverträge mit externen Arbeitgebern abgeschlossen – 30 davon mit frischli.

Infobox:

Eine von vielen: Nicole Heppe gehört zur Lebenshilfe-Crew bei frischli
Am Wäscheständer im Garten der Rehburger Lebenshilfe-Wohngruppe trocknet die Arbeitskleidung von Nicole Heppe an sonnigen Tagen schnell. „frischli – Milch und mehr“ steht auf der blauen Latzhose – dem sichtbaren Zeichen dafür, dass die Rehburgerin den Absprung aus den Lebenshilfe-Werkstätten geschafft hat.

Arbeitskleidung an der Leine







Arbeitskleidung an der Leine: Der Arbeitsplatz von Nicole Heppe ist in den frischli-Milchwerken.

„Ich kann arbeiten. Und ich will arbeiten.“ Nicole Heppe sagt das mit Nachdruck und zählt auf, wo sie schon überall im Einsatz war: In einem Supermarkt und im Hauswirtschaftsteam des Klosters Loccum. Auf einer Ranch war sie beschäftigt und hat auch einige Monate auf einem Gemüse-Hof verbracht. Ihr Chef dort, erzählt sie, habe sie immer „mein Kräutermädchen“ genannt. Irgendwie ist sie aber doch immer wieder zu der Belegschaft der frischli-Milchwerke zurückgekommen. 2019 begann sie, im Palettenlager des Unternehmens zu arbeiten.

Manchmal die Nase von der Arbeit voll
Zeitweise geht sie mit Lust und Laune zu ihrem Arbeitsplatz. Manchmal hat sie aber auch die Nase voll: Wenn mal wieder niemand auf sie hören will. Wenn sie das Gefühl hat, dass das Radio so laut dudelt, dass ihre Ohren schmerzen, und sie Angst hat, dadurch den Gabelstapler nicht zu hören, der jederzeit um die Ecke kommen kann.
In solchen Momenten bittet sie ihre Betreuer:innen, sich mit ihr auf die Suche nach einer anderen Arbeitsstelle zu machen. Um doch irgendwann wieder zurückzukommen. „Dann sage ich mir, dass jetzt bestimmt alles besser ist“, sagt sie lachend.

Sie will Verantwortung übernehmen
Nicole Heppe gehört bei frischli zu der Gruppe der Lebenshilfe-Mitarbeitenden. 44 Jahre ist sie alt und lebt in einer Lebenshilfe-Wohngruppe in Rehburg, nur einen Fußweg entfernt von ihrem Arbeitsplatz.
Sie ist ein fröhlicher und kommunikativer Mensch. Letzteres macht ihr das Leben gelegentlich etwas schwer. Immer dann, wenn sie meint, dass Dinge bei der Arbeit anders laufen müssten. Wie das mit dem Radio beispielsweise. „Dann sagen immer alle, ‚Oh, Heppe, halt die Klappe, das sollen die Betreuer regeln‘“, erzählt sie.
Ja, sie wisse es selbst, dass sie sich manchmal zu viel herausnehme. „Aber das kommt wohl aus meiner Kindheit, dass ich immer die Verantwortung übernehmen will.“

Alkohol in der Schwangerschaft hat Spuren hinterlassen
Während des Gesprächs im Garten ihrer Wohngruppe deutet Nicole auf ein Fenster des Hauses. Dort halte ihre Zwillingsschwester gerade ein Schläfchen. Die sei aus Nienburg zu Besuch gekommen, lebe dort in einer anderen Wohngruppe.
Ihre Mutter, erzählt Nicole Heppe, habe während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Das hat Spuren bei den Zwillingen hinterlassen. Aufgefangen wurden sie in den ersten Jahren von Pflegefamilien. Später zogen sie in die Wohngruppen ein.

Erster Arbeitsmarkt stärkt Mitarbeitende
Nicole Heppe ist nun schon lange in der Obhut der Lebenshilfe. In Rehburg hat sie zunächst in deren Werkstatt gearbeitet. In der Produktion und mit Verantwortung in der Küche. Auch da neigte sie dazu, gelegentlich die Regie zu übernehmen – sodass die Betreuer:innen eines Tages meinten, sie könne doch in die frischli-Gruppe wechseln. Als Schritt hin zum ersten Arbeitsmarkt.
Seitdem füllt sie Container, kennzeichnet und stapelt Paletten. In einer Gruppe, in der Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen miteinander arbeiten. Für viele Lebenshilfe-Mitarbeitende ist das nicht nur ein großer Schritt zu mehr Selbständigkeit, sondern auch zu mehr Selbstbewusstsein.

Spaß ist wichtig bei der Arbeit
Nicole Heppe hingegen sieht ihren Wechsel ziemlich pragmatisch: Verantwortung für ihre Arbeit übernimmt sie ohnehin immer. Daneben soll ihr dieser Teil ihres Lebens Spaß machen. Begeistert erzählt sie davon, dass ihre Gruppe eine Zeitlang immer dann, wenn ein Container vollbepackt war, „Du, der Lkw ist voll“ angestimmt habe – angelehnt an den alten Hallervorden-Song von der vollen Wanne. In solchen Zeiten ist alles perfekt. Genauso wünscht sie es sich für ihre Zukunft auf dem Arbeitsmarkt.

Sich als frischli-Mitarbeiter zu fühlen, bedeute ihnen viel. Immerhin sei das ein Schritt hin zum ersten Arbeitsmarkt, sagt Ruthenkolk, und einer, der auch mit einer geringfügig höheren Entlohnung verbunden sei. Der nächste Schritt zu völliger Unabhängigkeit von der Lebenshilfe in der Arbeitswelt sei wesentlich schwieriger zu vollziehen. In Nienburg wie auch bundesweit liege die Quote hierfür lediglich bei einem Prozent.

Grenzen der Leistungsfähigkeit achten

Den Versuch, fügt Gehrke hinzu, hätten viele gelegentlich vollzogen und seien größtenteils wieder zurückgekommen, um in dem gewohnten und geschützteren Umfeld wieder zu arbeiten.

Dass es sich auszahlt, die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu achten, betont auch Krumwiede. Druck aufzubauen und auf „just in time“ zu bestehen – das habe er gelernt – sei keine gute Methode. Den Lebenshilfe-Gruppen ihr eigenes Tempo zuzugestehen wie auch Rücksicht aufeinander zu nehmen, habe sich aber immer bewährt.

Feier des 30-jährigen Bestehens der Kooperation

Bild 4: Wertschätzung: Zur Feier des 30-jährigen Bestehens der Kooperation sind auch alle Mitarbeitenden aus der Lebenshilfe eingeladen worden. ade

 

„Just in time“ gab es zur Feier der 30-jährigen Kooperation im Garten der frischli-Verwaltung begleitend zu den Reden Hot Dogs und Getränke. Die Arbeit durfte während dieser Zeit getrost ruhen.



Beate Ney-Janßen
August 2025