Ingeburg Binde in ihrer Schneiderwerkstatt

Stadtgeschichte(n)

aus Rehburg-Loccum

Wenn der Beruf zum Hobby wird

Wenn der Beruf zum Hobby wird

Ingeburg Binde schneidert mit 95 Jahren für Loccums Kleiderkammer

Jammern und klagen? Das ist überhaupt nicht Ingeburg Bindes Ding. Stattdessen pickt sich die 95-jährige Schneidermeisterin dieses und jenes heraus, womit sie anderen helfen kann. Den Kunden des Loccumer Ladens – der ehemaligen Kleiderkammer – etwa. Oder der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“. Wer das Glück hat, von ihr auf eine Tasse Kaffee eingeladen zu werden, bekommt außerdem ihre Lebensphilosophie zu hören.

Ingeburg Binde in ihrer Schneiderwerkstatt

Zufrieden mit sich und ihrem Leben: Ingeburg Binde in ihrer Schneiderwerkstatt, die mittlerweile Hobby statt Beruf ist.

„Ich muss mit meinen 95 Jahren nicht sagen, was ich alles nicht mehr kann. Stattdessen sage ich mir immer, was ich noch kann!“ Die ältere Dame blickt entschlossen auf all das Schöne in ihrem Leben und ganz in diesem Sinne zählt sie auf, was noch gut funktioniert: Die Hände sind meistens flink, die Augen gut und auch der Kopf funktioniert bestens.

 

Den Beruf als Hobby ausklingen lassen

Mit diesen drei Voraussetzungen macht sie nahezu ungehindert dort weiter, wo sie nach ihrem Berufsleben als Schneidermeisterin aufgehört hat: An der ratternden Nähmaschine, umgeben von Stoffen und Kurzwaren und mit viel Spaß am Gestalten. „Das passiert wohl den wenigstens“, sagt sie schmunzelnd, „dass sie die Chance bekommen, ihren Beruf als Hobby ausklingen zu lassen.“

1928 hat Ingeburg Binde das Licht der Welt erblickt, irgendwo in Polen. 16 Jahre ist sie alt, als ihre Familie nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem Treck flieht. Erst landet sie mit Mutter und Großvater in Ostpriegnitz, kommt später in die Ostzone nahe Berlin, heiratet früh, bekommt Kinder. Als von einem Mauerbau gemunkelt wird, zieht die Familie in den Westen. Zuerst nach Winzlar, wo sie Bekannte haben, Jahre darauf nach Loccum.

„In Winzlar habe ich auf einer geliehenen Nähmaschine meine erste D-Mark verdient“, erzählt sie und erinnert sich, wie sie mit fast Nichts dort ankam – um dann zu erleben, dass viele Menschen bereit waren, ihr und ihrer Familie zu helfen. Wie mit der Nähmaschine, die sie sich ausleihen durfte.

Wie dankbar sie noch heute für alle Unterstützung ist, die ihnen, den Gestrandeten, zuteil wurde, drückt sie gleich mehrfach aus. Und auch, dass das Wissen darum, wie sich Flucht anfühlt, für sie ein Grund war, der Kleiderkammer Hilfe anzubieten. Den Flüchtlingen aus der Ukraine wollte sie helfen, wie ihr geholfen wurde.

In Winzlar wird Ingeburg Binde zur Meisterin

Noch in Winzlar legt die gelernte Schneiderin ihre Meisterprüfung ab. Sie ist fleißig und erarbeitet sich schnell ihren ersten Kundenstamm. In Loccum knüpft sie daran an und beschäftigt bald auch Lehrlinge. Bis zum Ende ihrer Laufbahn sollten es 38 Frauen werden, die bei ihr in die Lehre gingen. Vom Rock übers Sakko bis zum Mantel und Abendkleid – alles entsteht in ihrer Werkstatt.

Ein Blick in die Werkstatt mit ratternden Nähmaschinen.

Ein Blick in die Werkstatt, die Ingeburg Binde in Loccums Mindener Straße aufbaute – samt vieler ratternder Nähmaschinen.

 

Mehr durch Zufall kommt sie mit einem Industriebetrieb der Textilbranche in Kontakt. Sie wird gefragt, ob sie dort einsteigen und Musterstücke arbeiten wolle. Solche, mit denen die Handlungsreisenden damals von Geschäft zu Geschäft zogen. „Die mussten ganz besonders ordentlich sein, durften nicht den kleinsten Fehler haben“, erzählt Ingeburg Binde.

Sie sagt zu und hat innerhalb weniger Jahre nicht nur den einen Industriebetrieb als Kunden. In der Sommer- und Wintersaison hat sie 14 Angestellte von denen sie sieben das ganze Jahr über beschäftigt.

Ein Blick in die Schneiderwerkstatt

„Da platzte das Haus aus allen Nähten!“, erinnert sie sich und erzählt von Zeiten, in denen gefüllte Kleiderständer im Flur beiseite geschoben werden mussten, wenn jemand zur Toilette gehen wollte.

 




Mit 65 Jahren das Geschäft erweitert

Ihre Konsequenz: Ein neues Haus bauen, ihr eigenes Geschäft erweitern und ein Lädchen für Stoffe und Kurzwaren angliedern. Alles wohlüberlegt, geplant, kalkuliert, aber auch mit einer gewissen Portion Nervosität angesichts des großen Vorhabens. „Modewerkstatt Binde“ stand schließlich auf einem Schild an Loccums Mindener Straße. Einen Laden mit Stoffen und Kurzwaren gliederte sie dem gleich an. Damals war sie 65 Jahre alt.

Ingeburg Binde schneidert so mancher Braut ein Kleid auf den Leib.

Mit Stil und Eleganz richtete Ingeburg Binde ihre Werkstatt ein – und schneiderte auch so mancher Braut ein Kleid auf den Leib.

 

Was sie auch einführte und wofür sie viel Lob einheimste: Modenschauen, die sie zuerst allein organisierte, später als Nienburger Obermeisterin. Die gab es in Rodes Hotel in Loccum mit großem Erfolg und auch an vielen anderen Orten.

„Bis ich 70 Jahre alt war, haben wir unser Geschäft so betrieben, erst dann haben wir uns verkleinert“, sagt sie. „Wir“, das sind sie und ihr Sohn. Mit Wärme in der Stimme erzählt sie, wie er sie immer unterstützte und es noch jetzt tue. Ein Beispiel hat sie parat: Eine ihrer Nähmaschinen sei kaputt. Das bringe ihr Sohn beim nächsten Besuch in Ordnung.

Ihr Geschäft zu verkleinern bedeutete allerdings lediglich, dass sie keine Industrieaufträge mehr annahm. Private Kunden kamen weiterhin zu ihr und ließen sich schneidern, was sie sich wünschten. Manche sind darüber zu Freunden geworden. Wie die Frau, die zuerst während ihres Vikariats in Loccum zu ihr kam, ihre Schneiderkünste aber auch noch in Anspruch nahm, als sie als Pastorin längst weit entfernt lebte.

„Jetzt ist sie gerade pensioniert worden – und hat mich neulich erst für einige Tage besucht“, berichtet Ingeburg Binde und bietet von einem Teller mit knusprigen Waffeln an, die ihre Freundin während des Besuchs gebacken hat.

Einsam? Nein, einsam sei sie nicht, sagt sie. Auch wenn die Beine nicht mehr mitmachten, sie sich nur mühsam im Haus bewegen und gar nicht mehr ausgehen könne. Mit ihrem Sohn, ihren Freunden und mit ihrer großartigen Nachbarschaft komme keine Einsamkeit auf. Da taucht sie wieder auf, diese Dankbarkeit für alles, was ihr an Gutem im Leben begegnet ist.

Erst mit 80 Jahren zur Ruhe gesetzt

Erst mit 80 Jahren meldete sie ihr Geschäft ab und setzte sich zur Ruhe. Von ihren Nähmaschinen trennte sie sich dennoch nicht und auch die Reste aus ihrem Laden wanderten in ihr Wohnhaus.

Die Freude am Schneidern hatte sie doch nicht verloren, selbst wenn sie keine Aufträge mehr annahm. So wurde der Beruf zum Hobby.

Familie und Freunde sind in den vergangenen 15 Jahren von ihr mit Genähtem versorgt worden. In der übrigen freien Zeit begann sie, schöne Kleinigkeiten für die Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“ zu nähen, stricken und häkeln.

Viele schöne Sachen für die Kleiderkammer in Loccum.

Weil sie selbst Flüchtlingserfahrungen machen musste, arbeitet Ingeburg Binde mit Liebe und Hingabe viele schöne Sachen für Loccums Kleiderkammer.

 

Als schließlich der Ukraine-Krieg ausbrach, die ersten Flüchtlinge in Loccums Halle für alle einzogen und ein Frauenteam eine Kleiderkammer einzurichten begann, schlug Ingeburg Bindes nächste Stunde: Sie bot an, Geschneidertes zu spenden – weil sie helfen wollte und weil sich Stoffballen, Nähseide, Reißverschlüsse und Knöpfe bei ihr doch immer noch türmen.

Auch für die Kleiderkammer werden Kleidungsstücke genäht.

Im Kleiderkammer-Team löste ihr Angebot Begeisterungsstürme aus und seitdem bekommt sie gelegentlich Besuch von einer der Damen, die anschließend mit Taschen voller Kinderkleider, Federmäppchen, Knistertücher für Babys und anderer Kleinigkeiten das Haus verlässt.

Ihrem Einfallsreichtum setzt die Schneidermeisterin dabei keine Grenzen. Immer wieder hat sie neue Ideen für Geschneidertes. Neuerdings steckten oft Tüllröckchen in den Tüten, erzählt Ingeburg Binde. Denn die versetzten kleine Mädchen in Entzücken. Vom Tüll, den sie ursprünglich für Brautkleider kaufte, ist noch einiges da, so dass viele weitere Mädchen darauf bauen können, im Loccumer Laden ebenfalls fündig zu werden.

März 2024
Text und Fotos: Beate Ney-Janßen

 

Die Tüllröckchen sind sehr beliebt bei kleinen Mädchen im Loccumer Laden.

Die Tüllröckchen von Ingeburg Binde, die hier Carmen Thomas vorführt, sind im Loccumer Laden höchst beliebt bei kleinen Mädchen.

 



Erinnerungen im Fotoalbum: Ein Schild wies auf die Modewerkstatt Binde hin.



Erinnerung im Fotoalbum: In Loccum wies ein Schild an der Straße auf die „Modewerkstatt Binde“ hin.

 



Stoffballen türmen sich an der Wand in der Werkstatt.


Stoffballen türmen sich an einer Wand der Werkstatt – die Reste aus dem kleinen Laden, den Ingeburg Binde in Loccum hatte.




Ingeburg Binde hat so manche Modenschau organisiert.


Nicht Bange vor Herausforderungen: Ingeburg Binde hat so manche Modenschau organisiert.

 



Maßgeschneidert: praktisch und elegant titelte einst die Harke.


            „Maßgeschneidert: praktisch und elegant“ titelte einst „Die Harke“ nach einer der Modenschauen von Ingeburg Binde.