Tolles Team: Marcel Marburger mit seinem Chef Frank Richter

Stadtgeschichte(n)

aus Rehburg-Loccum

Die Geschichte des Marcel Marburger

Vom Maßregelvollzugs-Patienten zum Malermeister:                                    Die Geschichte des Marcel Marburger 

Rehburg-Loccum (ade). Die Welt ist ziemlich rosarot für Marcel Marburger. Er hat eine Wohnung, eine Freundin, nebenan schläft das gemeinsame Kind. Arbeit hat er obendrein, hat die letzte Prüfung zum Maler- und Lackierermeister bestanden und sein Chef zieht in Erwägung, ihm den kleinen Malerbetrieb zu überlassen, wenn er einmal in Rente gehen will. Vor sieben, acht Jahren hätte Marburger sich solch ein Leben nicht träumen lassen. Damals, als er in Bad Rehburgs Maßregelvollzugszentrum landete.

Tolles Team: Marcel Marburger mit seinem Chef Frank Richter

Tolles Team: Marcel Marburger (links) mit seinem Chef Frank Richter.

 

Maßregelvollzug. In Rehburg-Loccum ist das den Menschen ein Begriff und für viele ist er nicht positiv belegt. Suchtkranke Straffällige, solche, die zu Haftstrafen verurteilt wurden und deren Resozialisierung mit einer Therapie gegen ihre Sucht wahrscheinlicher werden soll, kommen dorthin. Untergebracht mit mehr oder weniger Freiheiten, je nach Beurteilung der behandelnden Therapeuten und Psychiater. Wie überall in den Maßregelvollzugszentren in Deutschland.

Berührungspunkte zwischen den Patienten dieser Einrichtung und den Rehburg-Loccumern sind selten und – wie überall – macht dieser Vollzug in erster Linie mit negativen Schlagzeilen von sich reden. Wenn ein Patient ausgebrochen ist oder während der Therapie straffällig wurde.

Worüber selten, nahezu nie, berichtet wird, sind Erfolge dessen, was für eine zweite Chance dieser Straftäter getan wird. Es gibt sie aber, diese Erfolge, auch wenn sie allem Anschein nach kaum greifbar sind. Auf Anfrage teilt die Pressestelle des Niedersächsischen Sozialministeriums mit, dass es bislang keine belastbaren Zahlen zur Rückfallhäufigkeit von ehemaligen Maßregelvollzugsfällen gebe.

Um dieser Unkenntnis und den negativen Schlagzeilen ein gelungenes Beispiel gegenüberzustellen, ist Marcel Marburger bereit, seine Geschichte zu erzählen. „Auch wenn mich manche danach schief angucken werden“, wie er sagt. Weil das Misstrauen groß ist gegenüber jenen, die im Maßregelvollzug waren. Ihm hat zweierlei geholfen: Der Aufenthalt in der Klinik und die Bereitschaft seines Chefs, ihm eine Chance zu geben.

Nahezu fünf Jahre hat Marburger in Bad Rehburgs Maßregelvollzugszentrum verbracht. Wegen mehrfacher Straftaten, vom Dealen bis hin zu Körperverletzung war er verurteilt worden. Seine Sucht: Alkohol und „nahezu jede Droge, die es auf dem Markt gab außer Heroin“.

Ob er auf diese Bahn geriet, weil seine Kindheit alles andere als schön und gut war? Das will er so nicht unterstreichen. In den Jahren im Maßregelvollzug hat er allerdings sein komplettes voriges Leben aufarbeiten müssen:

Den Vater, der die Familie verließ, als der kleine Marcel zwei Jahre alt war. Die Mutter, die wechselnde Partner hatte, mit denen er sich selten gut verstand. Mit zwölf Jahren stellte er seine Mutter vor die Alternative: Er oder ich. Ihr derzeitiger Freund war übergriffig geworden, Marcel hatte die Mutter verteidigt. Sie entschied sich für den Partner. Ihr Kind kam in ein Heim.

„Ich habe jede Menge Mist gebaut.“

Es blieb nicht bei dem einen Heim. In den folgenden Jahren wurde der Teenager durch mehrere Einrichtungen gereicht. Ein schwieriges Kind, eines, das sich nicht fügen wollte. „Ich habe jede Menge Mist gebaut“, sagt er. Inklusive erster Erfahrungen mit Drogen.

Sein Leben war eine einzige Achterbahn. Auf der einen Seite die Sucht und die Kleinkriminalität, mit der er sie finanzierte. Gewohnt hat er mal hier, mal da, oft bei Freunden. Ein halbes Jahr hat er Platte gemacht. Und es trotzdem geschafft, zwei Handwerkslehren anzufangen. Ein Jahr als Bäcker, zweieinhalb Jahre als Tischler. Zu Ende gebracht hat er nichts davon.

Sein Lebenswandel machte sich unterdessen auch gesundheitlich bemerkbar. „Als ich nur noch 47 Kilogramm wog, habe ich gemerkt, dass ich etwas ändern muss“, sagt er. Dass dieses „Ändern“ darin bestand, von Drogen auf Alkohol umzusteigen, war allerdings keine gute Entscheidung. Funktionieren, erzählt er, konnte er bald nur noch mit einem Alkoholpegel von 2 bis 4 Promille.

Der „Umstieg“ hatte aber noch andere Konsequenzen: Da er nicht mehr dealte, wurde das Geld knapp. Auch die zweite Sucht wollte schließlich finanziert werden. „Dann habe ich angefangen, Schulden einzutreiben. Erst lieb und nett – und dann nicht mehr so.“ Geprügelte Schuldner zeigten ihn an. Festnahme, Verhandlung und das Urteil „Haft“.

Maßregelvollzugszentrum Bad Rehburg

Tiefpunkt: Wegen Sucht und Straffälligkeit landete Marcel Marburger in Bad Rehburgs Maßregelvollzugszentrum.

 

Die trat er wegen seiner mehrfachen Abhängigkeit direkt in Bad Rehburg an. „Im ersten Jahr habe ich nur Schmu gemacht“, bekennt er. Einsicht darin, dass es seine Chance war, sich aus den Abhängigkeiten zu befreien? Die lag bei null. Stattdessen ergriff er jede sich bietende Gelegenheit, um an Alkohol und Drogen zu kommen, ging schließlich ins Gefängnis. Nach einem halben Jahr kam er zurück nach Bad Rehburg. Mittlerweile einsichtiger.

Familie, Haus und Hund als Lebensziel

Er ließ sich auf die Therapie ein, auch wenn ihm, wie er sagt, beileibe nicht alles gefallen oder geholfen habe. „Gut war, dass ich die Zeit bekommen habe“, sinniert er. Zeit, um sich selbst zu finden und zu überlegen, was er sich vom Leben eigentlich erhofft. Schmunzelnd erzählt er, dass diese Hoffnung sich als „so richtig spießbürgerlich“ herausstellte: Familie, Haus und ein Hund. „Das habe ich mir schon als kleiner Junge gewünscht.“

Was er außerdem wollte: Arbeiten. Noch während der Therapie suchte er nach Handwerksbetrieben mit dem Vorsatz, sich um ein Praktikum zu bewerben.

Marcel Marburger - vom Praktikanten zum Meister

Obenauf: Weil Frank Richter vorurteilsfrei auf seine Anfrage reagierte, konnte Marcel Marburger sich vom Praktikanten zum Meister hocharbeiten.

 Gleich beim ersten Anruf hatte er Glück. Großes Glück. Frank Richter, Malermeister aus Münchehagen mit eigenem kleinem Betrieb, lud ihn ein, mal vorbeizuschauen. Obwohl Marburger deutlich gesagt hatte, dass er im Maßregelvollzug einsitzt. „Ich kam dort an, als sie gerade im Garten grillten“, erinnert er sich. Einige Bratwürste und ein offenes Gespräch später gab es den Handschlag: Er konnte als Praktikant anfangen. Dass dieser reibungslose Ablauf nicht die Regel, sondern eine Ausnahme ist, war Marburger bewusst.

„Meine Frau und ich haben natürlich darüber geredet, ob wir es mit Marcel ausprobieren sollen“, sagt Richter. Schließlich war er kein Praktikant wie jeder andere. Für eine Probezeit und mit der Aussicht, jederzeit abbrechen zu können, wollten sie es aber versuchen.

Chef und Praktikant gefiel das Arrangement auf Anhieb und es dauerte nicht lange, bis Richter ihm einen Ausbildungsplatz anbot. Dann kam die Katastrophe. Weil er bald entlassen werden sollte und dann mobil sein musste, kaufte Marburger sich ein Auto – was die Klinik-Regeln nicht zuließen. So saß er Weihnachten 2018 auf Station 1, der bestgesicherten Station der Klinik.

Alle mühsam erarbeiteten Freiheiten waren passé. Praktikum, Lehre – sollte das alles hinfällig sein? Doch er hatte nicht mit seinem Chef gerechnet, der diesen zupackenden Mitarbeiter nicht so schnell zu den Akten legen wollte.

Mit Weihnachtsgeschenk in den Maßregelvollzug

„Als Frank erfuhr, was passiert war, ist er Weihnachten zum Maßregelvollzug gekommen und hat so lange an der Rezeption genervt, bis er sein Weihnachtsgeschenk für mich abgeben durfte“, erzählt Marburger. Und Richter habe auch in den folgenden Monaten nicht lockergelassen. Einmal wöchentlich erkundigte er sich in der Klinik nach Marburger und blieb bei seinem Willen zu dem Ausbildungsverhältnis, auch wenn sich der Beginn um ein Jahr verzögerte.

Meisterbrief von Marcel Marburger

Geschafft: Marcel Marburger hat seinen Meisterbrief bekommen.


Im Gegenzug bekam er einen motivierten und zupackenden Auszubildenden, der als einer der Besten seines Jahres abschloss, sich direkt zur Meisterschule anmeldete und sich auch ansonsten mit Wohnung, Freundin und Kind ein bürgerliches Leben aufbaute.

Dass er nicht der einzige derjenigen ist, die im Maßregelvollzug waren und den Absprung aus Sucht und Kriminalität geschafft haben, ist Marburger noch wichtig zu betonen. In näherem Umkreis sei er zwei anderen begegnet, denen es genauso gelungen sei. Nur dass sie nicht über diesen Lebensabschnitt redeten, da nicht jeder so wie Frank Richter bereit sei, sich mit Menschen wie ihnen abzugeben.

November 2023

Text und Fotos: Beate Ney-Janßen