Gustav Nagel mit Zelt und Kindern

Stadtgeschichte(n)

aus Rehburg-Loccum

Ein Liebesbrief vom ersten Camper am Steinhuder Meer

Ein Liebesbrief vom ersten Camper am Steinhuder Meer

Barfuß, wahlweise im langen Gewand oder mit Lendenschurz, mit wallender Mähne und einer Mission – so kam Gustaf Nagel 1907 nach Mardorf und wurde der erste Camper am Steinhuder Meer. Die Jungfernstunde des Tourismus an Norddeutschlands größtem Binnensee? Vermutlich eher nicht. Der wie Jesus anmutende Nagel, der an der Weißen Düne sein Zelt aufschlug, hatte anderes im Sinn. Als asketischer Wanderprediger erarbeitete er sich auch hier einen Ruf. Eine Schönheit aus Winzlar soll ihn aber zumindest zeitweilig von seiner Mission abgelenkt haben.

 

Gustav Nagel mit Zelt und Kindern

Ein Foto von Gustaf Nagel mit Zelt und Kindern aus Mardorf am Steinhuder Meer, aufgenommen 1907. privat

 Horst Kohlmann freut sich ziemlich diebisch über das, was in seiner Tasche steckt. Ein Liebesbrief. Verfasst in Mardorf am 15. August 1907 und das von niemand geringerem als Gustaf Nagel. Ein kleiner Schatz für Kohlmann, der im Mardorfer Heimatmuseum schon so lange und so sehr engagiert ist, dass er den Beinamen „Museumsdirektor“ bekommen hat.

Eines Tages, vor einigen Jahren, sagt Kohlmann, habe eine Frau aus Winzlar bei ihm geläutet. Ob wohl Interesse an einem Stück Mardorfer Geschichte bestehe, wollte sie wissen. Sie habe da diesen Brief.

Rechtschreibreform anno 1907

Den Brief zieht der Museumsdirektor vorsichtig aus seiner Aktentasche. Ein zerfleddertes Stück Papier, die Tinte verblasst bis verwischt. Beim Hervorholen fällt es in zwei Teile auseinander. Dass Kohlmann Mühe hatte, den Brief zu entziffern, glaubt ihm jeder unbesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass der Verfasser die Zeilen in altdeutscher Schrift nur flüchtig auf das Papier geworfen hat. Und dann noch die Rechtschreibung: Alles geschrieben wie gesprochen. Letzteres liegt in der Persönlichkeit Nagels begründet, der sich nicht nur als Prediger sah, sondern auch für eine Rechtschreibreform kämpfte. Groß- und Kleinschreibung? Die wollte er abschaffen und auch vieles andere vereinfachen. Weshalb er, der doch eigentlich Gustav Nagel hieß, sich zu gustaf nagel machte.

Horst Kohlmann mit einer Abschrift des Liebesbriefes

Manches ist entziffert: Horst Kohlmann mit einer Abschrift des Liebesbriefes von Gustaf Nagel. ade

 Doch zurück zum Brief, den Kohlmann mittlerweile einigermaßen entziffert hat. Von Gott und der Natur ist viel die Rede, vom Heidesträußchen, das er am Meer pflückte und davon, dass kein Mensch allein sein solle. Fast liest es sich wie ein Heiratsantrag, wenn Nagel schreibt „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei, sprach der liebe Gott. Darum komm, du mir von Gott erwählte heilige liebliche Braut.“

 

Heimlich von Mardorf nach Winzlar geschlichen

Was aus dem Brief nicht hervorgeht: Der Name der Angebeteten. „Du liebliche Heidebraut“ ist die einzige Anrede, die Nagel wählt. Doch etwas mehr Licht ins Dunkel konnte jene Frau bringen, die an Kohlmanns Tür gepocht hatte.

Ein Winzlarer Mädchen, eine junge Frau, sei es gewesen, in die Nagel allem Anschein nach sehr verliebt war. Ob die Liebe erwidert wurde, ob es mehr als heimliche Briefe waren, die die beiden verbanden? Alles unbekannt. Zu der Bekanntschaft sei es aber gekommen, weil Nagel gelegentlich des Abends heimlich durch die Landschaft der Meerbruchswiesen von Mardorf nach Winzlar schlich.

Der Sinn dieser späten Ausflüge war nicht unbedingt frommer Natur: In Winzlar angekommen, suchte er sich ein Plätzchen in Homeyers Gasthaus – heute das griechische Restaurant Palataki - und gönnte sich ein Bier.

Das heimliche Ziel in Winzlar

Das heimliche Ziel: In Winzlar kehrte Gustaf Nagel stets in Homeyers Gasthaus ein. Heute befindet sich darin das griechische Restaurant Palataki. privat

 

Den überaus weiten Weg zum gepflegten Bier wählte er aus gutem Grund. In Mardorf predigte der Jesus-Verschnitt Enthaltsamkeit, lebte vegetarisch und wetterte gegen Alkohol. „Kohlrabi-Apostel“ nannten sie ihn dort gelegentlich mit sanftem Spott. Um diesen Ruf nicht aufs Spiel zu setzen, gab es Bier nur heimlich und weit weg – in Winzlar.

Heiratsantrag wurde nicht angenommen

Beim Biere oder auf dem Weg dahin wird er der Winzlarerin begegnet sein. Sie machte ihm und vermutlich auch er ihr Eindruck. Bei den Frauen hatte der ansehnliche Mann ohnehin einen Schlag weg. Wäre es ihm sonst gelungen, dreimal im Leben zu heiraten? In diese Riege reihte sich die Schöne aus Winzlar allerdings nicht ein – auch wenn so etwas wie ein Heiratsantrag bis heute schriftlich hinterlegt ist.

In Mardorfs Museum am Aloys-Bunge-Platz hat das Team bereits einige Informationen zu Gustaf Nagel zusammengestellt. Der Brief soll sich irgendwann dazu gesellen. Aber auch so vermittelt die Ecke auf der Diele des alten Bauernhauses einen guten Eindruck von diesem Sonderling, der zwei Jahre lang am Weißen Berg campierte.

Das Museum ist im Juli und August jeweils mittwochs von 9 bis 13 Uhr geöffnet. Gruppen können sich unter (05036) 8763076 auch für andere Zeiten anmelden. Der Eintritt kostet einen Euro.

August 2023

Beate Ney-Janßen

Gustaf Nagel – der Sonderling vom Weißen Berg

Naturmensch, Wanderprediger, Rechtschreib- und Lebensreformer – so kann Gustaf Nagel umschrieben werden. 1874 in Sachsen-Anhalt geboren, wollte er Kaufmann werden. Seine Ausbildung brach er jedoch ab und baute sich eine Erdhöhle, um darin zu leben. Nagel wurde Vegetarier, ließ sein Haar lang wachsen, ging barfuß und kleidete sich „wie Jesus“. Das trug dazu bei, dass er in eine Klinik eingeliefert wurde, in der sein Geisteszustand untersucht werden sollte.

Der Wanderprediger Gustav Nagel

Freizügig und mit wallender Mähne – so inszenierte sich Wanderprediger Gustaf Nagel. privat

Mit 26 Jahren wurde er entmündigt, dennoch ging er auf Wanderschaft und überall dort, wo er ankam, lud er zu Versammlungen ein. Seine Popularität trug dazu bei, dass er mit Polizei und Kirche immer wieder in Konflikt geriet. Dennoch gelang es ihm 1903, seine Entmündigung aufheben zu lassen. Danach eröffnete er in Arendsee ein Kneipp-Bad.


1907 verließ er Arendsee und kam nach Mardorf. Die Überlieferungen besagen, dass dieser erste Hippie am Steinhuder Meer zwar für Aufmerksamkeit sorgte, er alles in allem aber mit seinem ausgefallenen Lebensstil akzeptiert wurde.

Zwei Jahre später endete die Mardorfer Episode. Nagel zog es wieder nach Arendsee, wo er einen „lebensreformerischen Naturpark“ anlegte. Er propagierte die freie Liebe, hatte zahlreiche Affären, war dreimal verheiratet, gründete die „deutsch-kristliche folkspartei“ und kandidierte für den Reichstag. Erfolglos.

1943 wurde Nagel als „Schutzhäftling“ in das Konzentrationslager Dachau eingeliefert, weil er Joseph Goebbels einen Brief geschrieben hatte, in dem er dessen Gerede vom „Endsieg“ als Unsinn bezeichnete. Von dort kam er ein Jahr später in eine Nervenheilanstalt, die er 1945 verlassen durfte. Daraufhin baute er seine Tempelanlage in Arendsee wieder auf und begann erneut, sich politisch zu engagieren. Nach der Ankündigung, den Herzog von Cumberland als „König von Deutschland“ krönen zu wollen, kam Nagel 1950 in eine Nervenheilanstalt, wo er zwei Jahre später starb.

Beate Ney-Janßen