Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm

Stadtgeschichte(n)

aus Rehburg-Loccum

Grimm in Rehburg-Loccum

Grimm in Rehburg-Loccum

Von Märchenhaftem und der Göttinger Sieben

Was verbindet die Brüder Grimm und Rehburg-Loccum? Vermeintlich: Nichts. Keines der Märchen ihrer Sammlung wird den Dörfern der Stadt zugeordnet. Sie haben sich von keinem alten Mütterchen Rehburgs, Loccums oder Winzlars am bollernden Ofen Überlieferungen erzählen lassen. Und noch nicht einmal eine Kutschfahrt, die die beiden Brüder durch diese Gegend führte, ist bekannt. Auf den zweiten Blick tut sich allerdings Märchenhaftes auf. Vom Froschkönig am Wegrand bis hin zu einem Relikt aus den Jahren, in denen die Grimms sich als streitbare Geister in Sachen Demokratie bewiesen.

 

Der Froschkönig in Bad Rehburg

Begegnung mit Grimm: Wer möchte nicht den Frosch küssen, um zu sehen, ob ein Prinz daraus wird? ade

Der Brüder Grimm-Märchenweg auf den Promenaden der Berge Bad Rehburgs darf mittlerweile beinahe als Klassiker unter den Ausflugszielen in Rehburg-Loccum gelten. Mit üblichem Start an der Romantik Bad Rehburg lassen sich Spaziergänger zu Grimm und Co. führen., denn nicht jede der Geschichten zu den hölzernen Figuren am Wegrand haben Jacob und Wilhelm sich erzählen lassen. Hier und da ist auch märchenhafter Lokalkolorit eingestreut.

An der Urne wird das Märchen der schönen Allwine bildlich gemacht, die ihr Leben Kranken an der Bad Rehburger Quelle widmete, anderswo dürfen die Spaziergänger sich mit der Fabel vom Hühnchen, das nach Loccum wollte, vertraut machen.

Aber der Rest auf den fünf Kilometer Wanderwegen ist Grimm. Weswegen Rehburg-Loccum mittlerweile auch der Deutschen Märchenstraße angeschlossen ist. Und wer sich beim Spaziergang mit Kindern nicht mehr ausreichend an die Märchen erinnert, darf sich gerne an den QR-Codes bedienen. Rapunzel lässt dann am Wilhelmsturm ihr Haar herunter und Rotkäppchen samt Wolf harrt ihrer Geschichte nur wenige Schritte vom steilen Abhang der Wolfsschlucht entfernt.

Nicht das einzige Rotkäppchen in der Stadt. Hoch oben an der Fassade der alten Schule Rehburgs, in der heutzutage die Polizei residiert, tummeln sich Mädchen und Tier ebenfalls. In beiden Fällen muss Rotkäppchen nicht um ihr Leben bangen – die Wölfe kommen eher sanftmütig daher.

Wem das nicht genug Grimm ist, kann sich in Loccum eine durchaus wahre Geschichte vom Ehepaar Schwarz erzählen lassen:

Es war einmal – im Haus von Hella und Bert Schwarz, die vieles sammeln und eine Leidenschaft für Dinge mit Geschichte haben. Besucher fühlen sich bei Kaffee willkommen und üblicherweise gehen sie erst aus dem Haus, wenn sie mindestens zwei Geschichten aus Leben -und Sammelleidenschaft des Paares gehört haben. Wie sie das Ständerwerk ihres alten Bauernhauses aus dem Schaumburgischen nach Loccum verfrachteten. Oder dass Loccums Klosterbäcker es manchmal bereut, seine schönen alten Holztüren gegen neue ausgetauscht zu haben. Wie gut die alten sich machen, sieht er bei jedem Besuch im Haus Schwarz. Und dabei war er damals nur froh, seinen alten Krempel loszuwerden.

Das Treppengeländer der Brüder Grimm

Geschichtsträchtig: Bert Schwarz neben dem Treppengeländer aus dem Göttinger Haus der Brüder Grimm. ade

Oder auch die Geschichte von diesem Treppengeländer, das in der Diele schnurgerade in die oberen Räume führt…

„Gerettet, als das Haus der Grimms entkernt werden sollte“, erzählt Hella Schwarz. Das Haus in Göttingen, in dem Jacob und Wilhelm Grimm von 1830 bis 1837 lebten. „Darauf hatten wir schon lange ein Auge geworfen“, sagt sie schmunzelnd.

 

Grimm’sches Geländer demontiert

Ein Auge hatte die Schwester von Hella Schwarz darauf Sie lebte nahe dem Grimm’schen Haus und ihre Aufgabe war die Aufmerksamkeit für den richtigen Zeitpunkt – weil für das Haus in Loccum noch ein Treppengeländer fehlte.

Eines Tages vor bald 40 Jahren kam der ersehnte Anruf in Loccum: „Jetzt geht es los – du musst sofort kommen.“ Ab ins Auto, Hella Schwarz düste nach Göttingen und mit reichlich Mühe demontierten die Frauen das Treppengeländer bevor die Abbruchbirne kam.

In Loccum steckt seitdem ein wahrhaftiges Stück Grimm. Und eines, bei dem es sich lohnt, auf die Zeit zu schauen, in der die schriftstellernden Brüder sich nahe dem Treppengeländer tummelten…

Es war das Jahr 1829, als die Brüder Jacob und Wilhelm sich in Göttingen zunächst als Bibliothekare, später auch als Professoren verdingten. Schon bald zogen sie in das bewusste Haus in der Goethestraße. Nicht nur, um dort zu leben, sondern auch, um ihre Studenten zu lehren, wie eine Zeichnung ihres jüngsten Bruders, des Malers Ludwig Emil Grimm, anschaulich verdeutlicht.

Lesung im Haus Georgstr. 6

Der jüngste Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm, Ludwig Emil, zeichnete diese Szene von Jacob Grimm während einer Vorlesung im Haus Goethestraße 6 in Göttingen. 

In diesen Jahren in Göttingen entstand auch die dritte Auflage der Kinder- und Hausmärchen und das zweite Projekt, das den Brüdern Grimm bis heute Weltruhm verleiht, nahm dort seinen Anfang: Das Deutsche Wörterbuch. Das größte und umfassendste Wörterbuch der deutschen Sprache – bei dem die Brüder sich angesichts des Umfangs leicht verschätzten. Zehn Jahre Arbeit und sechs Bände hatten sie einkalkuliert. Zu Lebzeiten kamen sie über den Buchstaben D jedoch nicht hinaus.

Andere führten ihre Arbeit fort. Nach sage und schreibe 123 Jahren war das Werk, das die Grimms begannen, erst beendet. In 32 Bänden. Das haben Jacob und Wilhelm nicht mehr erlebt.Aber deren Treppengeländer ist dem schwerwiegenden Wörterbuch nahe – sämtliche Bände stehen in Bert Schwarz Bibliothek. Weil es für ihn gerne ein bisschen mehr Grimm sein darf.

Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm

Schwerwiegendes Schätzchen: Jacob und Wilhelm Grimm begannen mit dem Deutschen Wörterbuch. Erst 123 Jahre später wurde es fertiggestellt. ade

Zurück nach Göttingen, zu den Grimms und nun zur Politik – denn auch die kümmerte die Brüder in jener Zeit und zwar so sehr, dass sie öffentlich gegen eine Entscheidung ihres Landesherren protestierten. Sie wollten die Aussetzung des Staatsgrundgesetzes nicht hinnehmen, die König Ernst August I. von Hannover als eine seiner ersten Amtshandlungen beschlossen hatte. Ein Gesetz, das erst wenige Jahre zuvor in Kraft getreten war und in dem erstmals demokratische Rechte für bestimmte Bürgerschichten festgeschrieben waren.

Eine Protestnote für die Freiheit

Sieben Göttinger Professoren, zu denen auch die Brüder Grimm zählten, sahen darin einen klaren Rechtsbruch und entschlossen sich, dagegen vorzugehen – auch in schriftlicher Form. Ernst August war nicht amüsiert, fasste die mutige Tat als offenen Widerstand auf und enthob die Professoren ihrer Ämter. Drei von ihnen, die sich dazu bekannten, ihre Protestnote – oder Protestation, wie sie sie nannten - nicht nur unterzeichnet, sondern auch weitergegeben zu haben, mussten zudem innerhalb von nur drei Tagen das Land verlassen – unter ihnen Jacob Grimm.

Denkmal Göttinger Sieben

Denkmal: Vor Hannovers Landtag wird den Göttinger Sieben gedacht. ChristianSchd 

Damit endete die Göttinger Episode der Grimms, ihre Einmischung gereicht ihnen aber bis heute zu Ruhm und Ehre. Als „Göttinger Sieben“ haben die Professoren Eingang in die Geschichtsbücher bekommen und stehen in Hannover an exponierter Stelle vor dem Landtag - als Denkmal für Zivilcourage.

In Göttingen mussten die Brüder von dannen ziehen. Das Treppengeländer blieb mehr als ein Jahrhundert zurück und gibt nun dem Ehepaar Schwarz in Loccum Halt.

März 2023

Beate Ney-Janßen